„Stille Nacht“ und der Vulkan. Die Klimageschichte eines Weihnachtsliedes
Als das „weltweit bekannteste Weihnachtslied“ verzeichnet die Online-Enzyklopädie Wikipedia „Stille Nacht, heilige Nacht“; übersetzt in mehr als 300 Sprachen, symbolisiert es für viele Menschen in allen Ländern den Frieden der Weihnachtszeit. Den Text des Liedes dichtete der Hilfspfarrer Joseph Franz Mohr (1792-1848) jedoch im Winter 1816 in Mariapfarr im Salzburger Lungau vor dem Hintergrund bitterster Not. Hunger und Elend suchten die Menschen nicht nur in der Umgebung Mohrs, sondern in vielen Regionen Europas und der Welt heim.
Ausgelöst hatte diese globale Krise mehr als ein Jahr zuvor im April 1815 der gewaltige Ausbruch des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa im heutigen Indonesien. Schon in den Jahren zuvor waren mehrere Vulkane in der Region ausgebrochen (so der Awu auf indonesischen Insel Sangihe Besar 1812 oder der Mayon auf den Philippinnen 1814). Die Eruption der Tambora erreichte aber mit einer Stärke von 7 auf dem Vulkanexplosivitätsindex (VEI) das Hundertfache der Gewalt dieser früheren Ereignisse und immer noch das Zehnfache des berühmten Ausbruchs des Krakatau 1883. Von der ursprünglichen Höhe des Tambora von 4200 m wurden fast 1400 m weggesprengt und ca. 150 Kubikkilometer an vulkanischem Material ausgestoßen.
Abb. 1: Die Lage des Vulkans Tambora in Indonesien und die Ascheniederschläge während des Ausbruchs 1815 (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Tambora#/media/Datei:1815_tambora_explosion_B.png)
Zuerst traf die Katastrophe die Bewohner auf Sumbawa, aber auch auf benachbarten Inseln wie Bali; zehntausende Menschen starben aufgrund der direkten Auswirkungen der Eruption oder danach an Hunger wegen der Verwüstung ihrer Felder durch die Vulkanasche (die sich erst Jahre später als Segen für die Landwirtschaft erweisen sollte). Die Eruptionssäule des Tambora erreichte mit einer Höhe von mehr als 25 Kilometern aber auch die oberen Schichten der Atmosphäre; das ausgeworfene Material verbreitete sich dort in den folgenden Monaten auf dem gesamten Globus und beeinflusste die Gestalt der Himmelserscheinungen, insbesondere aber das Witterungsgeschehen.
Noch mehrere Jahre konnte man ungewöhnliche Farben bei Sonnenuntergängen beobachten, die durch die vulkanischen Staubteilchen hervorgerufen und durch Künstler wie den englischen Maler William Turner (1775-1851) verewigt wurden. Fatal waren jedoch die klimatischen Folgen der Veränderung der Atmosphäre; 1816 wurde zu einem „Jahr ohne Sommer“, in dem man unerwartete Kälteeinbrüche und langanhaltende Dauerregen in vielen Regionen Nordamerikas und Europas, wo man gerade die Napoleonischen Kriege hinter sich gebracht und auf friedlichere Zeiten gehofft hatte, verzeichnete. Diese Extremereignisse verminderten die Ernten verschiedener Feldfrüchte oder vernichteten sie zur Gänze; Mangel und Verteuerung der Lebensmittel, Hungersnot und Verelendung weiter Bevölkerungsgruppen waren die Folge. Die Staaten Europas waren – nach Jahren der Kriegsführung – nur ungenügend auf die Katastrophe vorbereitet; zwar versuchte man durch Ausfuhrverbote, Preisregelungen und Maßnahmen gegen Spekulanten und Wucherer den Mangel an Nahrung zu mindern. Jedoch waren die staatlichen Autoritäten mindestens ebenso an der Eindämmung potentiell revolutionärer Unruhen interessiert und gingen gegen die wachsende Zahl der Bettler und Landstreicher vor.
Abb. 2: Vergleich der Sommertemperaturen von 1816 in Europa zum langjährigen Mittel 1971–2000 (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Jahr_ohne_Sommer#/media/Datei:1816_summer.png)
Diese dramatischen Ereignisse erweckten auch das Interesse schreibender Zeitgenossen, wie Johann Wolfgang von Goethes (1749-1832), der sich als Minister in Weimar von Amts wegen für ihre Auswirkungen interessieren musste, wiewohl ihn vor allem der Tod seiner Frau Christiane im Juni 1816 traf. Die junge englische Schriftstellerin Mary Shelley (1797-1851) hielt sich zusammen mit ihrer Familie im Jahr 1816 in der besonders von der Katastrophe heimgesuchten Schweiz auf und ließ sich von den außergewöhnlichen Wetterereignissen um den Genfer See für ihren 1818 veröffentlichten Roman „Frankenstein or The Modern Prometheus“ inspirieren. Wohl noch unmittelbarer als der berühmte Dichter in Weimar oder die wohlhabende Engländerin nahm aber wohl der selbst im Dezember 1792 im Armenhaus der Erzdiözese in Salzburg geborene Pfarrer Joseph Franz Mohr das Elend der Menschen war.
Für Salzburg, das erst im Jahr 1816 endgültig dem Kaiserreich Österreich zugeschlagen wurde, befand eine Kommission im Dezember dieses Jahres, das „die Teuerung (…) bis zu einem in der Geschichte (…) beispiellosen Grade gestiegen ist.“ Der Lungau im Südosten Salzburgs, klimatisch ohnehin nicht besonders begünstigt, litt besonders unter Rekordniederschlägen und Extremkälte, die sich im Winter 1816/1817 noch verschärfte. In dieser tristen Zeit verfasste Joseph Franz Mohr nun in Mariapfarr die Verse der „Stillen Nacht“, die dem Elend in einfachen Worten die Hoffnungsbotschaft des Weihnachtsfestes gegenüberstellten: „Jesus der Retter ist da!“, wie es in der letzten Strophe im Originaltext heißt.
Abb. 3: Autograph des Liedes „Stille Nacht, Heilige Nacht“ von Joseph Franz Mohr, um 1820 (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Stille_Nacht,_heilige_Nacht#/media/Datei:Autograph_Mohr_Stille_Nacht.png)
Die Not setzte sich jedoch im folgenden Jahr fort; dem Rekordwinter 1816/1817 folgte eine vermehrte Zahl an Lawinenniedergängen und Überschwemmungen. Nach den Mißernten des Vorjahres erreichten die Getreidepreise im Frühjahr 1817 ihren Höhepunkt. Und auch im Sommer dieses Jahres verursachten extreme Witterungsereignisse wie Gewitterstürme mit Starkregen Schäden an Siedlungen und Äckern. Angesichts der schieren Not verzeichneten die Behörden in vielen Gebieten in Österreich und Deutschland ein Ansteigen der Kriminalität; Jäger in den alpinen Regionen vermerkten eine noch nicht dagewesene Zahl an Akten der Wilderei.
Währenddessen wurde Joseph Franz Mohr im September 1817 von Mariapfarr nach Oberndorf am Ufer der Salzach nahe der Stadt Salzburg versetzt; auch dort litten die Menschen, die unter anderem vom Salzhandel auf dem Fluss lebten, unter den Extremen der Natur wie Überschwemmungen und dem durch die Krise verursachten allgemeinen Rückgang des Handelsverkehrs. Mit seinem vorgesetzten Pfarrer Georg Heinrich Joseph Nöstler geriet Mohr bald in Konflikt, fand aber einen Freund im Lehrer Franz Xaver Gruber (1787-1863) aus der nahen Ortschaft Arnsdorf, der in der Schifferkirche St. Nikola in Oberndorf als Kantor und Organist diente. Auch Gruber stammte aus einfachsten Verhältnissen und war in Unterweitzberg im Innviertel als Sohn eines Leinenwebers geboren worden; gerade dieses Gewerbe litt besonders unter den Folgen der Teuerung und des schwindenden Absatzes, aber auch der neuen Konkurrenz der industriellen Textilherstellung aus England.
Abb. 4: Der Krater des Vulkans Tambora heute und die die Stille-Nacht-Kapelle in Oberndorf bei Salzburg zur Adventzeit (Quelle: https://de.wikipedia.org)
Zum Jahreswechsel 1817/1818 ersehnte man in Europa ein Ende der Not; doch erst im Laufe des neuen Jahres schwächten sich die klimatischen und ökonomischen Auswirkungen der Tambora-Eruption ab. 1819 kehrten die Preise für Nahrungsmittel auf ihr gewohntes Maß zurück. In dieser Zeit zwischen Elend und Hoffnung führten Joseph Franz Mohr und Franz Xaver Gruber am Heiligabend 1818 das Lied „Stille Nacht, Heilige Nacht“ in der Kirche St. Nikola in Oberndorf erstmals auf, nachdem Gruber eine Melodie zu den schon zwei Jahre alten Versen seines Freundes komponiert hatte.
Den Zusammenhang der erlittenen Notzeit mit dem Ausbruch des Tambora durchschauten Mohr und Gruber, aber auch ihre besser informierten Zeitgenossen nicht, obwohl sich die Nachricht über die gewaltige Eruption in Südostasien in den Jahren nach 1815 auch bis Europa verbreitete. Erst die Besteigung des Vulkans im Jahr 1847 durch den Schweizer Botaniker Heinrich Zollinger (1818-1859) und sein Team ließ genauere Schlüsse auf das Ausmaß des Naturereignisses zu. Der Dichter der „Stillen Nacht“, Joseph Franz Mohr, verstarb ein Jahr später am 4. Dezember 1848 in Wagrain im Pongau, wo er seit 1837 als Pfarrvikar diente. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Lied schon seinen Siegeszug in alle Welt angetreten und war bereits 1840 erstmals in New York erklungen. Und mittlerweile existiert auch eine Übersetzung in der in Indonesien weitverbreiteten malaiischen Sprache: „Malam Kudus…“.
Literaturhinweise:
W. Behringer, Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte. München 2015.
M. W. K. Fischer, "Stille Nacht" entstand genau vor 190 Jahren, ORF-Science, 24.12.2006: https://sciencev1.orf.at/news/146616.html
R. Glaser, Klimageschichte Mitteleuropas. 1200 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen. Darmstadt 2008.
S. Haeseler, Der Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien im Jahr 1815 und seine weltweiten Folgen, 2016, online: https://www.dwd.de/DE/leistungen/besondereereignisse/verschiedenes/20170727_tambora_1816_global.pdf?__blob=publicationFile&v=5
D. Krämer, „Menschen grasten nun mit dem Vieh“. Die letzte große Hungerkrise der Schweiz 1816/17. Basel 2015.
C. Oppenheimer, Eruptions that Shook the World. Cambridge 2011
M. Sigl u. a., Timing and climate forcing of volcanic eruptions for the past 2,500 years, Nature 523 (2015), doi:10.1038/nature14565.
Ein Vulkanausbruch beeinflusst 1816 das Leben in Salzburg, Salzburg-Wiki: https://www.sn.at/wiki/Ein_Vulkanausbruch_beeinflusst_1816_das_Leben_in_Salzburg
https://www.stillenacht.com/de/das-lied/entstehung/
Dr. Johannes Preiser-Kapeller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Mittelalterforschung/Abteilung Byzanzforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Zu seinen Forschungsgebieten gehört die Auswirkung klimatischer und ökologischer Veränderungen auf Gesellschaften der Vergangenheit.