Jenseits von Rom und Karl dem Großen

Forscher diskutierten in Wien globale und regionale Verflechtungen in der frühmittelalterlichen Welt zwischen 300 und 800 n. Chr.

„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde (im Griechischen: pasan ten oikumenen)“ (Lk 2, 1). Kaum ein anderer Satz vermittelt so deutlich wie der Beginn des Weihnachtsevangeliums den Anspruch des Imperium Romanum auf die Herrschaft über die damals bekannte Welt rund um das Mittelmeer. Diese „globale“ Dimension des Römischen Reichs war Voraussetzung für die Verbreitung des Christentums, ehe der neue Glaube Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. sogar zur Staatsreligion des Imperiums aufstieg. Die Christianisierung gehört aber auch zu jenen vom deutschen Althistoriker Alexander Demandt aufgelisteten 227 Faktoren, die in den letzten 1500 Jahren von Zeitgenossen und Gelehrten als mögliche Ursachen für den „Fall Roms“ herangezogen wurden.

Tatsächlich endete das römische Kaisertum im Westen des Reiches im Jahr 476, bestand aber im Osten (im später so genannten „Byzantinischen“ Reich) in Konstantinopel fast 1000 Jahre weiter. Einen entscheidenden Umbruch bedeutete dort nicht das fünfte, sondern das siebente Jahrhundert, als die unter dem Islam geeinten Araber das oströmische Reich seiner reichsten Provinzen in Syrien, Palästina und Ägypten beraubten und an den Rand des Untergangs brachten. Neben die Kaiser in Konstantinopel traten nun die Kalifen in Mekka, Damaskus und schließlich Bagdad als mächtigste Herrscher der „Ökumene“. Als mit der Krönung des Frankenkönigs Karl (gest. 814) zu Weihnachten 800 das römische Kaisertum im Westen erneuert wurde, hatten sich in der vormals geeinten römische Mittelmeerwelt drei imperiale Sphären etabliert, die jeweils den Kern der sich herausbildenden Islamischen Welt, der Orthodoxie und des „Abendlandes“ bilden sollten – so zumindest die traditionelle Deutung.

Die „Origins of European Economy“?

Islam, östliche und westliche Christenheit bildeten aber keineswegs monolithische, strikt voneinander abgegrenzte Blöcke, sondern waren durch vielfältige diplomatische, kulturelle und kommerzielle Beziehungen miteinander verknüpft. Die vom berühmten belgischen Historiker Henri Pirenne (1862-1935) aufgestellte These, demnach die islamische Expansion Handel und Verkehr zwischen den Nachfolgern des römischen Reiches nachhaltig unterbrochen hätte, wurde 2001 von Michael McCormick mit einer gewaltigen Sammlung historischen und archäologischen Materials auf mehr als 1000 Seiten eindrucksvoll wiederlegt. Auch im „dunklen“ siebenten und achten Jahrhundert wurde, obgleich auf geringerem Niveau, zwischen West und Ost gehandelt und gereist – und in der erneuten Intensivierung dieses Austauschs seit dem neunten Jahrhundert sieht McCormick die „Origins of European Economy“. Einen ähnlich breiten Bogen vom Kalifat bis Skandinavien spannte Chris Wickham in seinem Buch „Framing the Early Middle Ages“ (2005), konzentrierte sich aber auf die internen politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in den verschiedenen Regionen der „post-römischen“ Welt. Hinter den Ansätzen von McCormick und Wickham stehen auch widerstreitende Positionen der modernen Entwicklungsökonomie: ist die möglichst starke Verflechtung durch Netzwerke des Welthandels eine zentrale Voraussetzung wirtschaftlicher Entwicklung oder hängt regionales ökonomisches Wachstum viel eher von der inneren Dynamik ab, ja kann dieses vielleicht sogar durch die Integration in ein von Ungleichheit geprägtes „globales“ System zum Nutzen des imperialen Zentrums in peripheren Gebieten gehemmt werden (so etwa die Weltsystem-Theorie Immanuel Wallersteins)? Die Transformation der römischen Mittelmeerwelt verdient somit über die Suche nach den „Wurzeln Europas“ hinaus die Aufmerksamkeit der Wissenschaft.

Netzwerke in einer „post-römischen“ Welt

Auf jeden Fall wurde die mit dem Zusammenbruch des imperialen Systems im Westen des Römischen Reiches einhergehende Verringerung der Reichweite und Intensität der überregionalen Verflechtungen (ablesbar etwa an der Verbreitung von Keramik) auch von einer zum Teil dramatischen Reduktion der sozio-ökonomischen Komplexität und des Lebensstandards der Bevölkerung begleitet, wie Bryan Ward Perkins (Oxford) in seinem Buch “Der Untergang des Römischen Reiches und das Ende der Zivilisation“ (dt. 2007) darlegt. Dennoch brachen die Verbindungen in der post-römischen Welt nicht völlig ab. Diesen Phänomenen ging ein internationaler Kreis von Historikern und Archäologen zwischen dem 11. und dem 13. Dezember 2014 im Rahmen der Konferenz „Linking the Mediterranean“ an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien nach (mit Bryan Ward-Perkins als Hauptredner). Dort nimmt das Institut für Mittelalterforschung (IMAFO) mit den Wissenschaftlern um Walter Pohl eine weltweit führende Stellung insbesondere in der Erforschung der Entstehung der germanischen Völker und Reiche in dieser Zeit ein und hat mit dem Projekt „Visions of Community“ ebenfalls globale Perspektiven eröffnet.

An der Abteilung für Byzanzforschung (ABF) des IMAFO widmet sich der Organisator der Veranstaltung, David Natal, seit eineinhalb Jahren als Marie Curie-Fellow mit Förderung durch die Europäische Union insbesondere der Dynamik und Widerstandskraft kirchlicher Netzwerke während der Jahrzehnte des Zerfalls des weströmischen Reiches und danach. Betreut wird er dabei von Claudia Rapp (Universität Wien und ÖAW), einer ausgewiesenen Expertin für die Spätantike, die auch lange Jahre in Großbritannien und den USA geforscht hat. Für die Kartierung und Analyse dieser Verflechtungen bringt David Natal – in Kooperation mit Johannes Preiser-Kapeller (ABF/IMAFO, ÖAW) – Instrumente der digitalen Netzwerkanalyse zum Einsatz, die auch strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den Kommunikationsnetzen der Spätantike und modernen „social networks“ entdecken helfen.

Das Netzwerk der Straßen im römischen Reich (gelb) und das soziale Netzwerk des Bischofs Ambrosius von Mailand (374-397, rot) (© David Natal, 2014)

Die Fragmentierung des Römischen Reiches als Netzwerkmodel, 1: links Dichte und Reichweite der Verbindungen zwischen mehr als 5000 Siedlungspunkten bei aufrechten überregionalen Verbindungen (über mehr als 300 km), rechts das selbe Netzwerk nur mit regionalen Verbindungen (bis 40 km) (© J. Preiser-Kapeller, 2014)

Die Fragmentierung des Römischen Reiches als Netzwerkmodel, 2: links die Integration der Siedlungen des Reiches in überregionale Cluster bei aufrechten überregionalen Verbindungen (über mehr als 300 km), rechts die Fragmentierung nur mit regionalen Verbindungen (bis 40 km) (© J. Preiser-Kapeller, 2014)

Tatsächlich trat die Kirche in verschiedener Hinsicht an die Stelle des untergegangen Imperiums: über den ganzen Raum vom Mittelmeer bis zur Nordsee versuchte sie, Strukturen der kirchlichen Verwaltung und Seelsorge aufrecht zu erhalten. Päpste wie Gregor der Große (590-604) waren auch bestrebt, verlorenen Boden wieder gut zu machen und entsandten Missionare bis ins mittlerweile von heidnischen Angelsachsen eroberte Britannien. Das Christentum verbreitete sich sogar in Gebiete, die nie von den Römern erobert worden waren, wie nach Irland oder (im 7. und 8. Jh. wiederum mit Hilfe von irisch-schottischen und angelsächsischen Missionaren) in die germanischen Gebiete jenseits des Rheins. Gleichzeitig erfüllten Bistümer an vielen Orten Funktionen, die vormals die römische Verwaltung übernommen hatte, bis hin zur Herrschaft von Bischöfen, die sich zum Teil aus der spätrömischen Elite rekrutierten, über einzelne Städte. Daneben entstanden zahlreiche Klöster als neue Mittelpunkte der Gelehrsamkeit, aber auch der lokalen wirtschaftlichen Entwicklung. Durch die Mobilität von Klerikern, Mönchen und Pilgern oder die Translation von Reliquien wurden neue Netzwerke innerhalb der nunmehr christlichen Welt etabliert und symbolisch verstärkt: Bryan Ward-Perkins demonstrierte dies im Rahmen der Konferenz für die Verbreitung des Kults von Heiligen, Julia Hillner (Univ. Sheffield) für exilierte Kleriker und Francesca Conselvan, Philipp Dörler sowie Clemens Gantner (alle drei IMAFO/ÖAW bzw. Univ. Wien) an Hand der Präsenz griechischer und anderer „orientalischer“ Mönche im Rom des 8. Jh.s.

Größer als Rom – globale Verflechtungen

Neben dem Fokus auf Strukturen innerhalb des spät und nach-römischen Westeuropas hilft der Blick über die Grenzen Roms hinaus in den Nahen und Fernen Osten, um die Entwicklungen in unseren Breiten in eine (dann durchaus bescheidener wirkende) globale Perspektive zu bringen, wie insbesondere Charles Stang aus Harvard und Johannes Preiser-Kapeller von der ÖAW demonstrierten. Unmittelbarer Nachbar und Konkurrent im Osten war seit dem 3. Jh. n Chr. das Persische Reich der Sasaniden, das Rom im Gegensatz zu den „Barbaren“ an Rhein und Donau als durchaus gleichrangige Großmacht anerkennen musste. Dennoch werden Macht und Einfluss dieses Imperiums in einer rom-zentrieten Wahrnehmung oft noch unterschätzt. Im 5. Jh. errichteten die persischen Großkönige mit der in den letzten Jahren intensiv erforschten Mauer von Gurgan östlich des Kaspischen Meers eine gewaltige Befestigungsanlage gegen die Bedrohung aus der Steppe Zentralasiens, die mit 195 km fast doppelt so lange war wie der Hadrianswall. Der aristokratische Lebensstil der sasanidischen Elite fand Nachahmung in weiten Teilen Westasiens; einzelne Elemente wie das Polo-Spiel verbreiteten sich bis Byzanz und sogar China. Heftiger Konkurrent des Römischen Reiches waren die Sasaniden nicht nur bei der Kontrolle über Armenien und Mesopotamien, sondern auch auf den Routen des Fernhandels zu Lande durch Innerasien und zu Wasser auf dem Indischen Ozean, über die begehrte Luxusgüter wie Seide und Gewürze gehandelt wurden. Insbesondere im 6. und 7. Jh. eskalierte dieser Gegensatz in einer Reihe heftiger Kriege, bei denen beide Seiten nach Verbündeten von Zentralasien bis in den Jemen und Ostafrika suchten. Am Ende hatten die beiden Supermächte der Spätantike ihre Kräfte gegenseitig erschöpft; Nutznießer wurden die Araber, die unter dem Banner des Islam ab 636 Byzanz beinahe und das Perserreich zur Gänze eroberten.

Ein Indiz für die weitreichenden Verflechtungen zwischen dem Westen und dem Osten Eurasiens ist die Flucht der letzten Vertreter der Sasanidendynastie an den chinesischen Kaiserhof, mit dem bereits zuvor diplomatische Beziehungen bestanden hatten. Wichtige Vermittler auf den Routen zwischen Persien und China waren die Kaufleute der Städte Sogdiens (darunter als bedeutendste Samarkand im heutigen Usbekistan), deren Gemeinschaften sich seit dem 3. Jh. über ihr Kerngebiet hinaus entlang der „Seidenstraße“ bis in die Städte Zentralchinas verbreiteten. Diese Netzwerke wurden vorerst auch nicht durch die arabische Eroberung Persiens unterbrochen; im Gegenteil profitierten die Sogdier insbesondere von der Expansion Chinas unter den Kaisern der Tang-Dynastie (618-907), die nach vier Jahrhunderten politischer Fragmentierung (seit dem Ende der Han-Dynastie 220 n. Chr.) eine einheitliche Herrschaft über ganz China etablierten. Ihr Interesse an den Routen in den Westen und die von dort kommenden Produkte, für die sogdische Händler als Vermittler auftraten, wurde auch durch den Buddhismus motiviert, der sich seit dem 1. Jh. n. Chr. über ebendiese Handelswege von Indian nach China verbreitet hatte. Ähnlich wie Jerusalem die Christen bis hin nach Britannien, so lockten die heiligen Stätten des Wirkens Buddhas Pilger aus dem Reich der Mitte auf dem Land- und Seeweg nach Indien, von wo man auch wertvolle Reliquien und Schriften nach Hause mitbrachte. Doch Chang´an, die mehr als eine Million Einwohner zählende und über 80 km² große Hauptstadt der Tang, beherbergte nicht nur buddhistische Tempel und Klöster (deren Zahl im ganzen Reich in die Tausenden ging und ähnlich wie in Europa große wirtschaftliche Bedeutung erlangten), sondern auch Gemeinschaften des Zoroastrier, Manichäer, Juden und Christen, die ihren Weg über die Seidenstraßen in den Fernen Osten gefunden hatten. Diese „kosmopolitische“ Offenheit Chinas endete allerdings ab der Mitte des 8. Jh.s nach heftigen politischen Unruhen, die schließlich in den 840er Jahren in Verfolgungen der „nicht-chinesischen“ Religionen mündeten. Gleichzeitig verloren die Tang die Kontrolle über die Landrouten in den Westen, während die Araber die Städte Sogdiens eroberten, und somit von zwei Seiten die Blüte des sogdischen Handels beendet wurde.

Jedoch brachen Handel und Austausch zwischen dem Nahen und dem Fernen Osten nicht ab; sie verlagerten sich nur von der unsicher gewordenen Landroute auf den Seeweg. Schon seit der vorchristlichen Zeit hatten Seefahrer aus dem griechischen und römischen Ägypten, aus Ostafrika, Südarabien und Persien unter Nutzung der Monsunwinde die Routen im westlichen Indischen Ozean befahren. Archäologische und schriftliche Befunde deuten sogar darauf hin, dass persische Schiffe im 4.-7. Jh. über Indien hinaus bis nach Südostasien und vielleicht sogar bis China vorstießen. Im Gegenzug erfolgte eine Ansiedlung von Seefahrern aus Indonesien auf der Insel Madagaskar über eine Distanz von mehr als 6300 km. Diese Netzwerke wurden mit der arabischen Eroberung nicht unterbrochen. Ihre Bedeutung stieg sogar, als sich 762 das Zentrum des Kalifats nach Bagdad verlagerte, das über den Tigris direkt mit dem Persischen Golf verbunden war und schnell zu einer Millionenstadt und somit einem gewaltigen Absatzmarkt aufstieg. Gleichzeitig verschoben sich die demographischen und wirtschaftlichen Schwerpunkte in China immer mehr in den Süden des Landes, dessen agrarischen Überschüsse die Tang-Kaiser durch ein mehr als 2000 km langes Kanalsystem in ihre Hauptstädte im Norden transportieren ließen (man vergleiche diese Infrastrukturmaßnahmen mit dem Unterfangen Karls der Großen zum Bau eines Kanal zur Überbrückung der europäischen Wasserscheide zwischen Rhein und Donau über eine Distanz von nach neuesten Forschungen vielleicht 6 km). Dieser „Boom“ an den beiden Endpunkten der „maritimen“ Seidenstraße führte zu einem Anstieg im Volumen des Handels, der bis gegen Ende des 9. Jh. vor allem auf persischen und arabischen Schiffen (den Vorbildern für Sindbad) von statten ging. Tausende muslimische Händler siedelten sich in Guangzhou (besser bekannt als Kanton) an. Reichweite und Umfang dieses Netzwerke illustriert der sensationelle Fund eines arabischen Schiffes aus der ersten Hälfte des 9. Jh.s bei Belitung in Indonesien im Jahr 1998; seine Fracht bestand aus mehr als 60.000 Stück chinesischer Keramik (Porzellan), bestimmt für die Abnehmer am Persischen Golf. Das Schiff selbst war mit aus Ostafrika stammenden Baumstämmen gebaut worden, wies aber auch Reparaturen, die mit Holz in Südostasien durchgeführt worden waren, auf.

Netzwerkmodell der Verteilung von 12 Keramiktypen zwischen 36 Handelsorten im westlichen Indischen Ozean zwischen 300 und 600 n. Chr. (© J. Preiser-Kapeller, 2014)

 

Das „Abendland“ als westliche Peripherie

Von der Perspektive dieses auf den Indischen Ozean hin zentrierten „Weltsystems“ hatte schon das Imperium Romanum nur eine Position an der westlichen Peripherie einnehmen können. Die Verbreitung jener Güter, die aus diesem Raum in die mediterrane Sphäre Roms gelangten, darf allerdings nicht unterschätzt werden. Selbst nach dem Ende des römischen Reiches fanden Schmuckobjekte mit Elfenbein aus Ostafrika und Halbedelsteinen aus Indien und Sri Lanka in beachtenswerter Zahl ihren Weg in die Gräber der germanischen Eliten des 5.-7. Jahrhunderts nördlich der Alpen. Im Rahmen der Konferenz präsentierte Katie Hemer von der Universität Sheffield auch sensationelle neue Ergebnisse von Isotopenanalysen an menschlichen Überresten von Gräbern in Wales aus dem 6. Jh., die eine Herkunft eines Teils der Individuen aus dem Mittelmeerraum nahelegen.

Neue Handelswege jenseits des Mittelmeers eröffneten sich im 8./9. Jahrhundert über das osteuropäische Flusssystem vom Kalifat und Byzanz nach Nord- und Westeuropa, wo vor allem die Wikinger als Vermittler auftraten. Vom Umfang dieses Handels künden zehntausende arabische Silbermünzen, die in Horten in Osteuropa und Skandinavien gefunden wurden. Im Gegenzug für Edelmetall und Luxuswaren lieferte die westeuropäische Peripherie vor allem Pelze und Sklaven (deren Handel im Rahmen der Konferenz von Jonathan Conant von der Brown University in den USA und Thomas J. MacMaster aus Edinburgh beleuchtet wurde) in die Zentren des Ostens. Wie Richard Hodges in seinem jüngsten Buch über die Wirtschaft der „Dunklen Jahrhunderte“ darlegt, stand der post-römische Westen in jener Zeit noch deutlich im Schatten der ihn an Größe und Komplexität übertreffenden Imperien der Araber oder Chinesen.

Städte des Mittelalters im Größenvergleich: Wien, (um 1300); Konstantinopel, Byzantinisches Reich (um 500); Kairo, Fatimidenkalifat (um 1000); Bagdad, Abbasidenkalifat (um 800); Chang´an, Hauptstadt der Tang in China (um 800). (© J. Preiser-Kapeller, 2014)

Handel, heilige Knochen und Schweinefleisch

Was die „neue“ Welt auszeichnete, die zwischen dem Untergang des weströmischen Reiches und der Kaiserkrönung Karls des Großen entstand, war neben dem Zerfall der imperialen Einheit die Überlappung der Netzwerke des Handels und der Politik mit jenen der universellen Religionen des Buddhismus, Judentums, Christentums oder Islam, die sich in diesen Jahrhunderten über ganz Eurasien verbreitet hatten.

Als venezianische Händler im Jahr 828 den Hafen von Alexandria in Ägypten anliefen, folgten sie den Routen, die vormals das Land am Nil mit dem Kernland des Imperium Romanum verbunden hatten. Doch trieb sie nicht nur das Streben nach Profit in das nunmehrige Kalifat; heimlich raubten sie (so zumindest die Legende) die Gebeine ihres Stadtpatrons, des Apostels Markus, aus der Stadt und schmuggelten sie unter eine Kiste voller gepökeltem Schweinefleisch auf ihr Schiff – wohlwissend, dass sie damit den muslimischen Zöllner von einer zu genauen Kontrolle abhalten könnten (s. Abb. 6). Symbolisiert wurde durch diese Übertragung auch eine dauerhafter Verbindung der „Markusrepublik“ mit dem „Orient“, die eine Grundlage für ihren weiteren Aufstieg zur wirtschaftlichen Großmacht (und für den Beginn einer neuen ökonomischen Dynamik in Italien und Westeuropa) bilden sollte.

Die Gebeine des Apostels Markus werden von zwei Venezianern aus Alexandria geschmuggelt; Mosaik am südlichen Portal von San Marco (19. Jh.)

Autor:

Dr. Johannes Preiser-Kapeller

Institut für Mittelalterforschung, Abteilung für Byzanzforschung, ÖAW

bzw. Römisch-Germanisches Zentralmuseum, Mainz

Wohllebengasse 12-14/3

1040 Wien

Tel.: 01-51581-3447

Email: Johannes.Preiser-Kapeller@oeaw.ac.at

Website: https://oeaw.academia.edu/JohannesPreiserKapeller

 

Internetlinks

https://www.oeaw.ac.at/byzanz/pdf/Linking_Program.pdf (Programm der Konferenz “Linking the Mediterranean. Regional and Trans-Regional Interactions in Times of Fragmentation (300 -800 CE)”, Wien, 11.-13. Dezember 2014)

 

https://www.academia.edu/3988811/David_Natal_EPISCOPAL_NETWORKS_AND_FRAGMENTATION_IN_LATE_ANTIQUE_WESTERN_EUROPE_ENFLAWE_ (das Projekt “Episcopal Networks and Fragmentation in Late Antique Western Europe/ENFLAWE” von David Natal)

 

https://www.oeaw.ac.at/imafo/ (das Institut für Mittelalterforschung/IMAFO der ÖAW)

 

https://www.oeaw.ac.at/byzanz/ (die Abteilung für Byzanzforschung des IMAFO)

 

Literatur

A. Demandt, Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt. 2. Auflage, München 2014.

J. Drauschke, Zwischen Handel und Geschenk – Studien zur Distribution von Objekten aus dem Orient, aus Byzanz und aus Mitteleuropa im östlichen Merowingerreich (Freiburger Beiträge zur Archäologie und Geschichte des ersten Jahrtausends 14). Rahden/Westf. 2011.

R. Hodges, Dark Age Economics. A new Audit. Bristol 2012.

M. McCormick, Origins of the European Economy. Communications and Commerce AD 300-900 (Cambridge 2001).

J. Preiser-Kapeller, Peaches to Samarkand. Long distance-connectivity, small worlds and socio-cultural dynamics across Afro-Eurasia, 300-800 CE (paper online: https://oeaw.academia.edu/JohannesPreiserKapeller/Papers)

C. Rapp, Holy Bishops in Late Antiquity: The Nature of Christian Leadership in a Time of Transition. Berkeley 2005

B. Ward-Perkins, Der Untergang des Römischen Reiches und das Ende der Zivilisation. Stuttgart 2007.

Ch. Wickham, Framing the Early Middle Ages. Europe and the Mediterranean, 400-800 (Oxford 2005).