Frankenstein und ein Vulkan (1816)
Wie Mary Shelley das „Jahr ohne Sommer“ erlebte
(Der Text diente als Grundlage eines Beitrags für die Sendereihe „Betrifft: Geschichte“ auf Radio Ö1, gestaltet zusammen mit Hanna Ronzheimer und ausgestrahlt am 27. 8. 2021: https://oe1.orf.at/programm/20210827/649349/Auf-den-historischen-Spuren-des-Klimawandels)
In der Einleitung zu ihrem Roman „Frankenstein“ berichtet die Verfasserin Mary Shelley über die Umstände der Entstehung dieser weltberühmten Geschichte: „Im Sommer 1816 besuchten (mein Mann und ich) die Schweiz und wurden Nachbarn von Lord Byron. Zuerst verbrachten wir unsere Mußestunden auf dem (Genfer) See oder auf Spaziergänge an seinem Ufer. (…) Aber der Sommer stellte sich als nass und unfreundlich heraus, und unablässiger Regen fesselte uns oft tagelang ans Haus. Einige vom Deutschen in Französische übersetzte Bände Gespenstergeschichten fielen uns in die Hände. (…) „Wir wollen alle eine Gespenstergeschichte schreiben“, sagte Lord Byron, und sein Vorschlag wurde angenommen.“ In ihrem Tagebuch liefert Mary Shelley weitere Beschreibungen der damaligen Witterung: „Die Gewitterstürme, die uns heimsuchen, sind grandioser und furchterregender, als ich es jemals erlebt habe. Wir sehen, wie sie von der anderen Seite des Sees herannahen, beobachten die Blitze, die in verschiedenen Himmelsregionen zwischen den Wolken tanzen und in den zerklüfteten Formationen auf den bewaldeten Anhöhen des Jura einschlagen, verdunkelt von den drohend schwebenden Wolken.“ Damals, so behauptete Mary Shelley zumindest später, entstand ihre Idee für den „Frankenstein“.
Abb. 1 Die Schriftstellerin Mary Shelley (1797-1851) und die 1831er Ausgabe des von ihr zuerst 1818 veröffentlichten Romans „Frankenstein or The Modern Prometheus“ (Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mary_Wollstonecraft_Shelley_Rothwell.tif bzw. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Frankenstein.1831.inside-cover.jpg)
Die extreme Witterung des Sommers 1816 war für die wohlhabenden Touristen aus England nur eine Trübung ihres Ferienvergnügens. Millionen Menschen weltweit brachte sie aber bitterste Not und Elend. Ausgelöst hatte diese globale Krise mehr als ein Jahr zuvor im April 1815 der gewaltige Ausbruch des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa im heutigen Indonesien. Schon in den Jahren zuvor waren mehrere Vulkane in der Region ausgebrochen. Die Eruption des Tambora erreichte aber das Hundertfache der Gewalt dieser früheren Ereignisse und immer noch das Zehnfache des berühmten Ausbruchs des Krakatau 1883. Von der ursprünglichen Höhe des Tambora von 4200 Meter wurden fast 1400 Meter weggesprengt und ca. 150 Kubikkilometer an vulkanischem Material ausgestoßen. Die Eruptionssäule des Tambora erreichte mit einer Höhe von mehr als 25 Kilometern die oberen Schichten der Atmosphäre; das ausgeworfene Material verbreitete sich dort in den folgenden Monaten auf dem gesamten Globus und erzeugte verschiedene Himmelserscheinungen.
Abb. 2 Die Lage des Vulkans Tambora im heutigen Indonesien und die Ascheniederschläge während des Ausbruchs 1815 (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Tambora#/media/Datei:1815_tambora_explosion_B.png)
Noch mehrere Jahre konnte man ungewöhnliche Farben bei Sonnenuntergängen beobachten, die durch die vulkanischen Staubteilchen hervorgerufen wurden. Fatal waren jedoch die klimatischen Folgen der Veränderung der Atmosphäre; 1816 wurde zu einem „Jahr ohne Sommer“, in dem man unerwartete Kälteeinbrüche und langanhaltende Dauerregen in vielen Regionen Nordamerikas und Europas verzeichnete. Dort hatte man gerade die Napoleonischen Kriege hinter sich gebracht und auf friedlichere Zeiten gehofft. Diese Extremereignisse verminderten die Ernten verschiedener Feldfrüchte oder vernichteten sie zur Gänze. Mangel und Verteuerung der Lebensmittel, Hungersnot und Verelendung weiter Bevölkerungsgruppen waren die Folge. Die Staaten Europas waren – nach Jahren der Kriegsführung – nur ungenügend auf die Katastrophe vorbereitet. Zwar versuchte man durch Ausfuhrverbote, Preisregelungen und Maßnahmen gegen Spekulanten und Wucherer den Mangel an Nahrung zu mindern; jedoch waren die staatlichen Autoritäten mindestens ebenso an der Eindämmung potentiell revolutionärer Unruhen interessiert und gingen gegen die wachsende Zahl der Bettler und Landstreicher vor. Entscheidend war also erneut nicht die Klima-Anomalie allein, sondern die Reaktion der verschiedenen Gesellschaften auf die damit einhergehende Krise, die deren Folgen dämpfte oder verschärfte.
Abb. 3: Vergleich der Sommertemperaturen von 1816 in Europa zum langjährigen Mittel 1971–2000 (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Jahr_ohne_Sommer#/media/Datei:1816_summer.png)
Der Vulkanausbruch des Tambora markierte einen weiteren Höhepunkt der seit dem 14. Jahrhundert anhaltenden Kleinen Eiszeit. Allerdings ging diese mit Anfang des 20. Jahrhunderts in eine moderne Warmzeit über. Nun stiegen die globalen Durchschnittstemperaturen an, ab dem späten 20. Jahrhundert in einem frühere Perioden des Klimawandels übertreffenden Ausmaß, das durch natürliche Klimafaktoren nicht mehr erklärbar ist. Größerer Vulkaneruptionen wie jene des Pinatubo auf den Philippinnen 1991 sorgten zwar kurzfristig für eine messbare Reduktion der Sonneneinstrahlung, verlangsamten aber den Temperaturanstieg nur wenig. Der wachsende Anteil von Treibhausgasen wie CO2 und Methan in der Atmosphäre ist auf Emissionen verschiedener menschlicher Aktivitäten zurückzuführen, insbesondere die Nutzung fossiler Brennstoffe wie Kohle und Erdöl. 1816, als Mary Shelley ihren Roman schrieb, gewann die Industrialisierung gerade an Fahrt. „Frankenstein“ verstand sie auch als Warnung vor den unerwarteten Gefahren moderner Wissenschaft und Technik. An einer Stelle warnt das Monster seinen Schöpfer: „Es liegt bei dir, ob ich die Nähe der Menschen für immer meide und ein harmloses Leben führe oder die Geißel deiner Mitmenschen werde und der Urheber deines eigenen rapiden Untergangs.“ Mit Schaudern blickt auch der Historiker auf die bereits spürbaren und möglichen künftigen Folgen des von der Menschheit selbst entfesselten Klimawandels.
Abb. 4: Globale Temperaturentwicklung (rot), atmosphärische CO2-Konzentration (blau) und Sonnenaktivität (gelb) seit dem Jahr 1850 (Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Temp-sunspot-co2.svg)
Mehr zum Ausbruch des Tambora 1815 und dem „Jahr ohne Sommer“ (mit Literaturangaben) gibt es hier zu lesen: https://www.dasanderemittelalter.net/news/stille-nacht-und-der-vulkan-die-klimageschichte-eines-weihnachtsliedes/