Die Mongolen, ein Vulkan und König Ottokar
Klimawandel und politische Unruhen in Österreich im späten 13. Jahrhundert
Ein Auszug aus: Johannes Preiser-Kapeller, Der Lange Sommer und die Kleine Eiszeit. Klima, Pandemien und der Wandel der Alten Welt von 500 bis 1500 n. Chr. Wien: Mandelbaum Verlag Februar/März 2021. 400 Seiten, ISBN: 978385476-889-0
Zwischen 1250 und 1260 verfasste ein anonymer Dichter aus dem Herzogtum Österreich das Versepos „Biterolf und Dietleib“, dessen Inhalt an das Nibelungenlied anschließt; die namensgebenden Helden erhalten für ihre Taten vom Hunnenkönig Etzel (für den Attila als Vorbild diente) die Steiermark als Lehen. Dies dient als Anlass zu einem Loblied auf dieses Territorium:
„Kein Land gibt bessere Gelegenheit zu Unterhaltung und Ritterspiel. Es gibt hier viele Wiesen und Wälder, die Gewässer haben genug Fische, kein Acker trug je besser Korn und Getreide. Wie könnte es uns besser gehen? Sieben Goldadern hat es. Es gibt kaum einen Berg, in dem man nicht Silber fände. Zu gutem Gewinn liegt das Land überall, zu Berg und zu Tal. Zahmes Wild und Beizvögel kann man hier viel haben. Salzquellen sind auch darin. (…) Es hat viele edle Ritter und viele edle Dienstleute. Zwischen der Elbe und dem Meer stehen nirgends bessere Plätze für Burgen.“
Der Text klingt wie eine Bilanz der 200 vorangehenden Jahre der hochmittelalterlichen Wachstumsperiode, natürlich aus einer Perspektive des Hochadels, dem die Erträge aus Landwirtschaft, Fischerei, Bergbau und Jagd vor allem zugutekamen. Allerdings war um diese Zeit in der Mitte des 13. Jahrhunderts die relative Stabilität der Herrschaft der Babenberger, die seit 1192 nicht nur in Österreich, sondern auch in der Steiermark regiert hatten, deutlich turbulenteren Zeiten gewichen. Dazu trug nicht zuletzt die Konfliktfreude des später zurecht mit diesem Beinamen bedachten Herzogs Friedrich II. „des Streitbaren“ (reg. 1230-1246) bei, der mehrfach mit seinen Nachbarn in Bayern, Böhmen und Ungarn im Krieg lag. Als nach Hochwässern 1234/1235 zudem 1235/1236 eine Hungersnot neben anderen Teilen Westeuropas Deutschland und Österreich heimsuchte, verbot Herzog Friedrich II., angeblich auf Ratschlag der Juden an seinem Hof (denen gleichsam stereotypisch „Wucher“ vorgeworfen wurde) den Export von Getreide in die Nachbarländer. Kurz danach forderte er sogar Kaiser Friedrich II. heraus, der 1236 dem Babenberger seine Herzogtümer entzog, bis es 1239 zu einer Einigung kam, der (unverwirklichte) Pläne für eine Erhebung der babenbergischen Länder zu einem Königtum folgten.
Umzeichnung des Siegels von Herzog Friedrich II. von Österreich und Steiermark (reg. 1230-1246)
Da erschütterte die Nachricht von den Invasionen und Verwüstungen der Mongolen in den russischen Fürstentümern Mitteleuropa; im Dezember 1240 zerstörten sie das alte Zentrum der Rus in Kiew und töteten fasst alle 30 000 Einwohner. Danach setzten sie ihren Vormarsch in Richtung Westen fort. In Erwartung des mongolischen Ansturms schloss König Bela IV. von Ungarn (reg. 1235-1270) mit Herzog Friedrich II. ein Bündnis; für seine Waffenhilfe ließ sich der Babenberger große Gebiete in Westungarn (im heutigen Burgenland) als Pfand übertragen. Tatsächlich zog Friedrich II. im März 1241 mit einen Truppen nach Ungarn und bestritt ein erfolgreiches Scharmützel mit einer Vorhut des Feindes, worauf er sich als „Mongolenheld“ feiern ließ. Als aber die Hauptmacht der Mongolen eintraf, hatte er sich bereits nach Österreich zurückgezogen. Die Ungarn wurden in der Schlacht von Muhi (nahe der berühmten Weinbaustadt Tokaj) am 11. April 1241 vernichtend geschlagen, und das Land schwer verwüstet. Nach verschiedenen Schätzungen fielen zehn bis 20 Prozent der damals vielleicht zwei Millionen Einwohner des Landes den Angriffen der Mongolen und der nachfolgenden Hungersnot zum Opfer. Das Unglück wurde rückblickend auch mit einer Sonnenfinsternis in diesem Jahr verknüpft. König Bela IV. floh zuerst nach Österreich und fand in Hainburg Aufnahme. Trotz seines frühzeitigen Abzugs hielt Herzog Friedrich II. seine hohen Forderungen für die Militärhilfe aufrecht, worauf hin Bela IV. in Richtung Kroatien weiterzog, dem Babenberger aber Rache schwor. Mongolische Streifscharen stießen bis in die Gegend von Wiener Neustadt vor; zum Glück für Österreich und Ungarn zogen die Mongolen jedoch im Folgejahr 1242 überraschend ab.
Die Vorstöße der Mongolen nach Mitteleuropa, 1240-1242
Der Grund für den mongolischen Rückzug gibt bis heute Rätsel auf. Gewöhnlich nimmt man an, dass die Nachricht vom Tod des Großkhans Ögedei, der nach seinem Vater Dschingis Khan die Herrschaft übernommen hatte und am 11. Dezember 1241 verstarb, eine Rolle spielte. Der Spezialist für die Steppenreiche Nicola di Cosmo und der Paläoklimatologe Ulf Büntgen stellten aber aufgrund von Niederschlagsrekonstruktionen 2016 die Vermutung auf, dass extrem feuchtes Wetter den Vormarsch der Mongolen durch das von Hochwasser führenden Flüssen durchzogene Karpatenbecken verzögert und auch die Versorgung ihrer enormen Anzahl an Pferden (im Durchschnitt fünf pro Krieger) und Truppen erschwert hätte. Hielt also – ähnlich wie der „Götterwind“ (Kamikaze) 1274 und 1281 die mongolische Flotte vor Japan – eine Witterungsanomalie die Mongolen von der Eroberung Mitteleuropas ab? Diese Hypothese blieb nicht unwidersprochen; der Historiker Zsolt Pinke und seine Kollegen hielten dagegen: „Die mongolische Armee kam am Ende einer schweren Dürre im ungarischen Königreich an, und wir legen empirische Beweise dafür vor, dass der reichliche Regen im Frühjahr 1242 ihre Aussichten auf ausreichende Nahrungsversorgung und Weideland nicht verschlechterte, sondern verbesserte. Das sumpfige Gelände der ungarischen Ebene hat den Rückzug der Mongolen wahrscheinlich nicht beschleunigt, da die Mongolen [der Goldenen Horde] letztendlich ihre Hauptkräfte um das sumpfige Wolgadelta ansiedelten.“ Büntgen und di Cosmo erwiderten, dass die von Pinke und seinem Team vorgelegten Vergleichsdaten für den günstigen Einflusses von Starkregenfällen auf die Weiden Ungarns aus dem 19. Jahrhundert stammten, sie aber keine neuen Belege für das 13. Jahrhundert vorlegen könnten, die ihr Szenario in Frage stellen würden. Stephen Pow wiederum, ein Co-Autor der Studie von Pinke, wies 2019 daraufhin, dass die historischen Quellen keinerlei Hinweise für einen Einfluss der Witterung auf den Abzug der Mongolen geben, im Gegensatz zu einem zweiten Invasionsversuch im Jahr 1285. Tatsächlich verzeichnet die Historikerin Andrea Kiss in ihrem monumentalen Werk zum Flutgeschehen im mittelalterlichen Ungarn keine Überschwemmung für 1242, sondern für das Jahr 1285, als die Truppen des Nogai Khan, eines Feldherrn der mongolischen Goldenen Horde, nach Ungarn vorstießen. In der sogenannten Continuatio Vindobonensis, Jahrbüchern für Wien und die umliegenden Gegenden, heißt es:
„Nach Weihnachten 1285 (wohl 1284) brach eine enorme Menge von Kumanen [ein seit dem 11. Jahrhundert nördlich des Schwarzen Meers siedelndes Steppenvolk, das die Mongolen teilweise unterworfen hatten] und Tataren [= Mongolen] in das Land [Ungarn] ein. Gott sandte jedoch Wolken und große Regenfälle über sie. Der Wolkenbruch im Frühjahr verursachte eine so große Flut, dass fast alle ertranken.“
Der Angriff der Mongolen auf Ungarn 1285 in einer illustrierten Chronik des 14. Jahrhunderts
Die Überschwemmung des Jahres 1285 fügt sich in eine Zunahme der Häufigkeit von Witterungsextremen im späteren 13. Jahrhundert, die den allmählichen Übergang von der Mittelalterlichen Klima-Anomalie zur Kleinen Eiszeit anzeigte. Bereits ungefähr um die Zeit, in der der Dichter des „Biterolf und Dietleib“ sein Lob auf die Steiermark verfasste, suchte eine Kalt-Anomalie zwischen 1257 und 1259 weite Teile Westeuropas heim, die mit Missernte, Hungersnot und Seuche einherging (die Sommer dieser Jahre gehören laut den Temperaturrekonstruktionen zu den kältesten des ganzen Mittelalters). So berichtet ein Chronist für England:
„Der Nordwind herrschte mehrere Monate lang vor, und als April, Mai und ein Großteil des Monats Juni vorüber waren, erschien kaum eine kleine seltene Blume oder ein schießender Keim (…). Unzählige arme Menschen starben, und ihre Körper wurden aus Mangel angeschwollen aufgefunden, fünf oder sechs zusammen. Die Seuche war unerträglich. Sie griff besonders die Armen an. Allein in London kamen 15 000 arme Menschen ums Leben. In England und anderswo starben Tausende. Der Adel verteilte an bestimmten Tagen in London Brot. (…) Die Reichen entkamen dem Tod nur durch den Kauf von ausländischem Getreide.“
Einen grausigen archäologischen Beweis der geschilderten großen Sterblichkeit insbesondere unter den weniger wohlhabenden Bevölkerungsschichten lieferten bei Bauarbeiten in London auf dem Gelände des St. Mary Hospitals (nördlich des Hyde-Parks) Massengräber, die in diese Zeit datiert werden konnten. Für diesen mehrmonatigen Kälteeinbruch wurde ein Vulkanausbruch verantwortlich gemacht, dessen besonders starke chemische Signatur sich auch in den Bohrkernen aus Grönland abzeichnete; nachdem der dahinter stehende Vulkan lange Zeit unbekannt war, sprach man von einer „Mystery Eruption“. Erst in den letzten Jahren wurde ein Ausbruch des Samalas-Vulkans auf der Insel Lombok (östlich von Bali und westlich von Sumbawa, wo der für das „Jahr ohne Sommer“ 1816 verantwortliche Vulkan Tambora liegt) im Jahr 1257 als Ursache wahrscheinlich gemacht.
Der Vulkan Samalas auf der Insel Lombok im heutigen Indonesien, der vermutlich für die Eruption von 1257 mit ihren klimatischen Folgen verantwortlich war
Auch in Österreich und der Steiermark waren die Auswirkungen der Kaltanomalie 1257/1258 zu spüren; dazu kam im August 1258 eine verheerende Feuersbrunst in Wien. Doch hatten die Länder schon in den Jahren zuvor unter Krieg und Not zu leiden gehabt. Aus dem Streit um die für die Hilfe gegen die Mongolen versprochenen Landstriche entbrannte ein Krieg zwischen Herzog Friedrich II. und König Bela IV., der im Juni 1246 zusammen mit kumanischen und russischen Hilfstruppen nach Westen marschierte. An der Leitha stellte sich ihm Friedrich II. am 15. Juni entgegen und konnte zwar die Schlacht für sich entscheiden, fand aber dabei den Tod. Mit ihm starb das seit 270 herrschende Geschlecht der Babenberger in der männlichen Hauptlinie aus.
Der Tod des Babenbergerherzogs Friedrich II. in der Schlacht gegen die Ungarn 1246, Darstellung im Babenbergerstammbaum in Klosterneuburg (um 1485)
Jene Nachbarfürsten, die aufgrund früherer Eheverbindungen Erbansprüche erheben konnten, stritten um die Macht in Österreich und der Steiermark, neben König Bela IV. von Ungarn vor allem der böhmische Kronprinz und ab 1253 König Ottokar II. Přemysl (reg. 1253-1278). An die Stelle des im „Biterolf und Dietleib“ beschriebenen Wohlstands trat „große Not“, wie der Minnesänger Ulrich von Liechtenstein (ca. 1200-1275) klagte, und „mancher, der vorher reich war, verarmte. (…) Man beraubte die Länder bei Nacht und Tag, so dass viele Dörfer verödeten.“ 1254 schlossen Ottokar II. und Bela IV. einen Teilungsvertrag, der die Herzogswürde in Österreich dem Böhmen und die der Steiermark dem Ungarn zusprach. Jedoch entbrannte der Kampf um das Babenberger-Erbe 1260 und 1271 erneut, wobei sich König Ottokar II. vorerst durchsetzen konnte; er war auch in Teilen der österreichischen Länder sehr populär, so in Wien, dem er nach dem Brand von 1258 und einer weiteren Feuersbrunst 1276 großzügige Hilfe zukommen ließ. Doch wählten die deutschen Fürsten 1273 mit Rudolf I. von Habsburg einen König, der bald die Ansprüche des Reiches in den österreichischen Ländern geltend machte. Er besiegte Ottokar II. schließlich im August 1278 in der Schlacht bei Dürnkrut und Jedenspeigen auf dem Marchfeld nordöstlich von Wien; der böhmische König kam dabei ums Leben. König Rudolf I. übertrug Österreich und Steiermark 1282 an seine Söhne Albrecht I. und Rudolf II. und begründete damit die mehr als 600jährige Herrschaft der Habsburger an der Donau.
Darstellung zum Theaterstück „König Ottokars Glück und Ende“ am Grillparzerdenkmal im Wiener Volksgarten von 1889
Der Aufstieg der Habsburger zur Großmacht im 14. und 15. Jahrhundert vollzog sich parallel zur klimatischen Entfaltung der Kleinen Eiszeit, die die kommenden 500 Jahre der Klimadynamik bestimmen sollte. Um 1282 setzte auch ein Minimum der Sonnenaktivität ein, das nach einem „Landsmann“ der ersten Habsburger, dem Schweizer Astronomen Johann Rudolf Wolf (1816-1893) benannt wird und bis 1342 anhielt. Der auch mit dem „Klimaforcing“ des Samalas-Ausbruchs 1257 einsetzende und durch weitere größere Eruptionen 1269, 1276 und 1286 (denen auch jeweils Missernten in Teilen Europas folgten) verstärkte Trend hin zur kühleren Klimabedingungen setzte sich auf globaler Ebene durch. Die vormals Nord- und Westeuropa begünstigende starke Ausprägung der Nordatlantik-Oszillation schwächte sich ab, und die Frequenz strenger Winter und kühler, oft feuchter Sommer, die die Ernten schädigten, stieg. Südeuropa und der Mittelmeerraum erhielten zeitweilig mehr Niederschläge als zuvor, die allerdings manchmal zu Überschwemmungen führten. Insgesamt stieg die Zahl der extremen Witterungsereignisse und der in mehreren Jahren aufeinander folgenden Ernteminderungen. Kältere Bedingungen und das Wachstum der Gletscher machten auch bestimmte Höhenlagen in den Alpen für Siedlung oder Nutzung unattraktiver, erschwerten die Überquerung mancher Pässe und sorgten für erhöhte Lawinengefahr. Das (für Nord- und Westeuropa zeitweilig gültige) „Optimum“ des Hochmittelalters ging zu Ende.
Johannes Preiser-Kapeller (Email: Johannes.Preiser-Kapeller@oeaw.ac.at)