Die Klage über Ur und Sumer (2000 v. Chr.)
Zerstörten die Götter und das Klima das erste Weltreich der Geschichte?
(Der Text diente als Grundlage eines Beitrags für die Sendereihe „Betrifft: Geschichte“ auf Radio Ö1, gestaltet zusammen mit Hanna Ronzheimer und ausgestrahlt am 23. 8. 2021: https://oe1.orf.at/programm/20210823/648817/Auf-den-historischen-Spuren-des-Klimawandels)
„(Der Gott) Enki hat den Lauf von Tigris und Euphrat verändert, sodass an den beiden Ufern der Flüsse nur schlechtes Unkraut wächst und niemand mehr auf den Straßen herumgeht. Die Stadt Ur und ihr dicht besiedeltes Umland sind zerstört und zu Ruinenhügeln geworden. Die Hacke berührt die fruchtbaren Felder nicht, keine Samen werden in den Boden gepflanzt. Die Lieder der Kuhhirten erklingen nicht mehr im offenen Land. Leichen trägt der Euphrat davon, Räuber durchstreifen die Straßen.“
Dieses Schreckensszenario, das einem postapokalyptischen Kinofilm entstammen könnte, entstand vor mehr als 4000 Jahren im Land Sumer im Süden des heutigen Irak. Es beklagt den Untergang der Stadt Ur, das als Herkunftsort des Abraham auch in die Bibel Eingang gefunden hat. Ungefähr ab 2100 v. Chr. gelang es den Königen von Ur die zahlreichen Stadtstaaten des südlichen Mesopotamien für drei Generationen unter ihrer Oberherrschaft in einem Reich zu vereinigen. Sie inszenierten sich dabei auch als Nachfolger der Könige von Akkad, die ab ca. 2350 v. Chr., beginnend mit dem berühmten Eroberer Sargon, überhaupt zum ersten Mal ein solches Großreich im Zweistromland begründet hatten. Allerdings war auch das Imperium von Akkad nach gerade einmal 150 Jahren um 2200 v. Chr. wieder zerfallen.
Abb. 1 Karte von Mesopotamien mit den heutigen Staatsgrenzen (Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:N-Mesopotamia_and_Syria_german.svg)
Der relativ rasche Zusammenbruch der Großreiche von Akkad und von Ur lag darin begründet, dass ihre Kontrolle über die anderen Stadtstaaten fragil blieb und durch ständige Feldzüge gesichert werden musste. Zu diesen wiederkehrenden Rebellionen im inneren kamen Angriffe von außen durch Gruppen aus den angrenzenden Gebirgen des Iran und aus den Steppen- und Wüstengebieten Arabiens. Unter letzteren nahmen die Amurriter eine wichtige Stellung ein; ihr Name bedeutet so viel wie die „Söhne des Westwinds“. Bei den Konflikten mit ihnen spielte der Zugang zu Wasser eine Rolle. So schrieb Schulgi, der zweite König von Ur, dass er zwischen Euphrat und Tigris eine Reihe von Mauern errichten ließ, „damit die Amurriter ihre Herden nicht an den Ufern (…) tränken können.“
Abb. 2: Der unter den Königen von Ur ab 2100 v. Chr. errichtete Zikkurat (Tempelturm; Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ancient_ziggurat_at_Ali_Air_Base_Iraq_2005.jpg)
Solche Nachrichten brachten gemeinsam mit der eingangs zitierten Klage über den Untergang Urs Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur These, dass ein um 2200 v. Chr. zu datierender Klimawandel zum Zerfall der Großreiche Mesopotamiens beitrug. Tatsächlich weist eine wachsende Zahl naturwissenschaftlicher Daten von Nordamerika bis Ostasien darauf hin, dass um diese Zeit eine weltweite Änderung der klimatischen Bedingungen einsetzte. Ähnlich wie mit der kleinen Eiszeit im Spätmittelalter begann eine mehrere Jahrhunderte andauernde Periode, die im globalen Durchschnitt kältere Temperaturen brachte, aber sich regional unterschiedlich auswirkte. Für Mesopotamien ist vor allem ein Rückgang der Niederschlagsmengen zu beobachten.
Abb. 3 Der um 2200 v. Chr. einsetzende Klimawandel („4.2k-Event“) in Proxydaten (in diesem Fall Sauerstoffisotopen aus Seesedimenten) aus verschiedenen Regionen des Mittelmeerraums (aus: Monica Bini u. a., The 4.2 ka BP Event in the Mediterranean region: an overview. Climate of the Past 15 [2019] 555-577, https://doi.org/10.5194/cp-15-555-2019).
Ob und wie sehr allerdings dieser Klimawandel den Untergang der Imperien von Akkad und dann von Ur bewirkte, ist umstritten. In manchen Überblickswerken wie jenem des US-Historikers Daniel R. Headricks aus dem Jahr 2020 scheint der Zusammenhang klar; er schreibt: „Als sich die Umweltbedingungen verschlechterten, brach das Reich von Akkad (…) zusammen.“
Doch solchen vermeintlich eindeutigen Schlussfolgerungen stehen für Akkad schon die Probleme der Chronologie im Weg. So werden für die Regierungszeit des akkadischen Staatsgründers Sargon drei verschiedene Datierungen vorgeschlagen, und die gesamte Reichsgeschichte Akkads wandert zwischen dem 24. und 22. Jahrhundert v. Chr. hin und her. Die deutsche Altorientalistin Karen Radner schreibt deshalb richtig: „Die Trockenperiode (ab 2200 v. Chr.) könnte zwar zum Kollaps des Akkadreiches beigetragen haben, aber es wäre umgekehrt auch denkbar, dass durch eine Verschlechterung der landwirtschaftlichen Bedingungen in den nordmesopotamischen Regenfeldbaugebieten die dortigen politischen Gebilde geschwächt und solcherart die rasche Ausdehnung des Reiches von Akkad begünstigt wurde.“
Und beim nachfolgenden Reich von Ur war es die wachsende Abhängigkeit von den Lieferungen aus den Provinzen, die seine Hauptstadt für Störungen im imperialen Netzwerk verwundbar machten. Als unter dem letzten König Ibbi-Sin die üblichen Getreidelieferungen ausblieben, kam es zu einem fünfzehnfachen Anstieg des Kornpreises in Ur, wo eine Hungersnot und Unruhen ausbrachen. Dabei mögen die in der zitierten Klage über den Untergang der Stadt angedeuteten und dem Zorn der Götter zugeschriebenen naturräumlichen Veränderungen eine Rolle gespielt haben. Aber auch bei der Deutung dieses Textes ist Vorsicht angesagt; er wurde unter einem König der Stadt Isin verfasst, der sich nach dem Zusammenbruch Urs als neuer starker Mann etablieren wollte. Und seine Großtaten mussten umso glanzvoller erscheinen, je düsterer das Bild der vorangehenden Katastrophe gemalt wurde.
Eine einfache Gleichung zwischen Klimaverschlechterung und dem Zusammenbruch einer politischen Ordnung lässt sich somit nicht aufstellen; viel zu komplex sind dafür sowohl die Wechselwirkungen zwischen Natur und menschlichen Gemeinschaften als auch die Verflechtungen zwischen Wahrnehmung und Reaktion innerhalb einer Gesellschaft.
Textgrundlage und weitere Literatur: Johannes Preiser-Kapeller, Die erste Ernte und der große Hunger. Klima, Pandemien und der Wandel der Alten Welt bis 500 n. Chr. Wien 2021, 120-125.