CSI Konstantinopel: Verbrechen und Strafe im mittelalterlichen Byzanz
von Ekaterini Mitsiou (Univ. Wien) & Johannes Preiser-Kapeller (ÖAW)
Es war wohl eine der ungewöhnlichsten Observierungsaktionen der Kriminalgeschichte, die sich in einer Nacht des Jahres 1361 vor dem Hodegon-Kloster nahe der Hagia Sophia in Konstantinopel abspielte. Denn dort lag Patriarch Kallistos I., der oberste Bischof der Stadt und des ganzen Byzantinischen Reiches, selbst mit seinen Kirchenbeamten, die sonst üblicherweise alleine derartige Ermittlungen unternahmen, auf der Lauer, um einem furchtbaren Verdacht auf den Grund zu gehen: der Abt des berühmten Klosters, Ananias, sollte angeblich jede Nacht in seiner Mönchszelle Besuch von einer amtsbekannten Prostituierten erhalten. Und so "unterzog unsere Bescheidenheit (wie sich der Patriarch selbst im betreffenden Dokument bezeichnete) die Sache einer Untersuchung, wie es notwendig war" und observierte selbst das Kloster. Tatsächlich ging der sündige Abt den Ermittlern ins Netz und wurde in flagranti ertappt (PRK III, Nr. 239 und 265). Man enthob ihn des Amtes und der detektivisch tätige Patriarch hatte einen ganz Konstantinopel erschütternden Skandal beendet.
Die byzantinische Hauptstadt Konstantinopel war mit mehr als 100 000 Einwohnern eine der größten Städte des mittelalterlichen Europas. Dementsprechend kam es Tag für Tag zu Verbrechen, die von staatlichen und kirchlichen Stellen geahndet wurden. Wir finden in unseren Quellen eine ganze Reihe von Delikten von Betrug, Diebstahl und Raub über Vertragsbruch, Urkundenfälschung, Münzmanipulationen und Nichtbezahlung von Schulden bis hin zu Vergewaltigung, Brandstiftung, Totschlag und Mord. Staat und Kirche ahndeten auch Verfehlungen wie Ehebruch und unrechtmäßige Eheschließungen (wenn etwa die Ehepartner nicht das vorgeschriebene Mindestalter besaßen), Homosexualität oder das Anhängen an theologische Irrlehren und die Anwendung von Zauberei.
Zuständig für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung in Konstantinopel war ursprünglich der Eparchos, der vom Kaiser eingesetzte Gouverneur der Stadt. Neben diversen Beamten unterstand dem Eparchos eine spezielle Polizeitruppe, die Stratiotai. Aber auch die Truppen der kaiserlichen Palastgarde konnten zur Herstellung von Ruhe und Ordnung herangezogen werden. Eine besondere Aufgabe des Eparchos war die Aufsicht über die Gewerbetreibenden und Händler der Stadt, deren Tätigkeit genau reglementiert war.
Abb. 1: Konstantinopel im Mittelalter (https://www.reddit.com/r/MapPorn/comments/54qeci/a_view_of_byzantine_constantinople_in_ad_1000/)
Die Byzantiner verstanden sich als Fortsetzer der Tradition des Römischen Reiches; dementsprechend besaßen sie auch ein ausgefeiltes System der Rechtsprechung; es existierte ein Instanzenzug von den Provinzrichtern bis zur Hauptstadt Konstantinopel. Dort war das höchste Gericht der kaiserliche Gerichtshof, der beim Hippodrom angesiedelt war. In der Regel wurden diese Gerichte nur tätig, wenn ein Ankläger auftrat; dieser musste eine schriftliche Anklage einbringen und bestimmte Voraussetzungen, wie z. B. Unbescholtenheit erfüllen. Beim Ankläger lag auch die Beweislast; konnten seine Anschuldigungen nicht bewiesen werden, dann sollte er gemäß dem Prinzip der (griech.) tautopatheia jene Strafe erleiden, die sonst der Angeklagte erlitten hätte.
Die weltlichen Gerichte verloren in Konstantinopel allerdings im späten Mittelalter an Ansehen und galten als korrupt. Kaiser Andronikos III. Palaiologos setzte deshalb im Jahr 1334 vier Katholikoi Kritai als allgemeine Richter ein, die über jedermann in gleicher Weise richten sollten. Schon drei Jahre später mussten allerdings drei dieser vier Richter selbst wegen Bestechlichkeit abgesetzt werden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass mehr und mehr Menschen sich an eine in ihren Augen vertrauenswürdigere Institution wandten: die Kirche.
Abb. 2: Das Stadtzentrum Konstantinopel mit dem Hippodrom, Sitz der
kaiserlichen Gerichte (Rekonstruktion von Antoine Helbert)
Mit der Anerkennung des Christentums durch den römischen Staat im 4. Jh. erhielt die Kirche das Privileg, selbst gemäß ihren Vorschriften über ihre Geistlichen Recht zu sprechen. Auch der Kirche am Herzen liegende Bereiche wie das Eherecht wurden vor ihren Gerichten verhandelt. Mit dem erwähnten Verfall der weltlichen Rechtsprechung gelangten aber auch andere Fälle wie Erbstreitigkeiten immer mehr vor die Gerichte der Kirche. Diese Gerichte bestanden in der Regel auseiner Versammlung des Bischofs und hoher Kleriker bzw. in den weiteren Instanzen aus den Bischöfen einer Provinz und in Konstantinopel aus dem Patriarchen und den in der Hauptstadt anwesenden leitenden Bischöfen (Metropoliten) der einzelnen Provinzen. Für die Entscheidungen dieses als Synodos endemusa bezeichneten höchsten kirchlichen Gerichts des Byzantinischen Reiches besitzen wir aus dem 14. Jh. eine einzigartige Quelle: das sogenannte Patriarchatsregister vonKonstantinopel (kurz: PRK). In zwei Handschriftencodices wurden die Sitzungen und Entscheidungen der Synode aus der Zeit von 1315 bis 1402 protokolliert und kopiert. Im 16. Jh. gelangten die beiden Codices durch einen habsburgischen Gesandten aus Konstantinopel nach Wien und liegen heute in der Österreichischen Nationalbibliothek. An der Abteilung Byzanzforschung des Instituts für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften werdendiesen viele hundert Texte seit mehreren Jahren neu herausgegeben, ins Deutsche übersetzt und analysiert. Diese Dokumente bieten einen einzigartigen Einblick in den byzantinischen Alltag, das Verhältnis von Verbrechen und Strafe und die Arbeit des kirchlichen Gerichts.
Abb. 3: Kaiser Johannes VI. Kantakuzenos
(reg. 1341-1354) innerhalb der Versammlung der Bischöfe (= Synode) in
Konstantinopel (Bibliothèque Nationale de France, Paris, Ms. grec 1242)
Wie wurden also Verbrecher nun im mittelalterlichen Konstantinopel überführt, verurteilt und bestraft? Wie bereits erwähnt, musste normalerweise ein Ankläger auftreten, damit überhaupt ein Verbrechen vor Gericht behandelt wurde. Der Patriarch beauftragte aber verschiedene seiner Kirchenbeamten mit der Aufsicht über die Kleriker Konstantinopels und besondere Angelegenheiten wie das Eherecht oder Magie und Zauberei. Diese Beamten sollten von Amts wegen als Ankläger auftreten, wenn ihnen ein Vergehen bekannt wurde. Da sie als Ankläger dann die entsprechenden Beweise vorlegen mussten, fungierten sie auch als eine Art von Ermittlungsbeamten. Nach mehreren Fällen von Zauberei setzte etwa Patriarch Johannes XIV. Kalekas im Jahr 1339 eine Sonderkommission ein, die gezielt Anbieter magischer Praktiken aufspüren sollte. In der entsprechenden Verlautbarung an die Bevölkerung von Konstantinopel heißt es (PRK II, Nr. 119): "Deswegen nämlich (...) haben wir Kirchenbeamte mit der Aufgabe betraut, herumzugehen und in allen Vierteln dieser Kaiserstadt genau zu ermitteln, ob sich kein Wolf, im Schafspelz gehüllt, in der Herde verborgen hält (...) und sich erfreut an Magie, Zauberei und den übrigen Werken des Teufels. Denen also, die damit betraut sind, diese (Verbrecher) zu ermitteln, sollt auch Ihr dabei behilflich sein, und wenn Ihr etwa derartige kennt und deren Anhänger, dann sollt Ihr sie zur
Anzeige bringen!"
Abb. 4: Blatt mit magischen Symbolen aus einer griechischen Handschrift
der nachbyzantinischen Zeit
Deutlich wird in diesem Text die Bedeutung der Mithilfe durch die Bevölkerung bei der Aufklärung von Verbrechen. Denn als besonders wertvolle Beweise für eine Anklage galten mündliche und schriftliche Aussagen von glaubwürdigen Zeugen. Über ihre Zulassung entschied der Richter, manche wenig angesehene Gesellschafts- und Berufsgruppen wie Andersgläubige oder Schausteller schieden von vornherein als Zeugen aus (so heißt es etwa in der Rechtssammlung des "Hexabiblos" des Konstantinos Harmenopulos aus der Zeit um 1345). In vielen Urkunden im Patriarchatsregister finden wir Zeugenaussagen wortwörtlich mitprotokolliert. Mit Hilfe von Augenzeugen konnten z. B. im Dezember 1315 zwei Mönche überführt werden, die wertvolle liturgische Gewänder gestohlen hatten, welche dann im Rahmen einer
Hausdurchsuchung bei ihnen gefunden wurden (PRK I, Nr. 19). Bei falscher Zeugenaussage drohte vor dem kirchlichen Gericht die Exkommunikation, die für einen Kleriker den Verlust seiner Stellung und seines Lebensunterhalts bedeutete, aber auch für einen Laien eine schwerwiegende Beeinträchtigung seiner öffentlichen Stellung mit sich brachte.
Konnten Zeugen nicht persönlich vor Gericht erscheinen oder mussten erst gefunden werden, so war es üblich, Beamte zu ihrer Auffindung und Einvernahme sowie zur Protokollierung der Aussagen zu entsenden (vgl. PRK I, Nr. 31). Ausführlichere Ermittlungen in weiter entfernten Gegenden konnten an hohe Kleriker delegiert werden: als der Metropolit von Ephesos in der heutigen Türkei 1343 den benachbarten Metropoliten von Pyrgion, beschuldigte, dass durch dessen Schuld ein Christ vom lokalen türkischen Emir hingerichtet worden sei (PRK II, Nr. 144), wurde ein weiterer benachbarter Metropolit mit einer Untersuchung vor Ort beauftragt und ermittelte folgendes: "Der Bericht über die örtliche Untersuchung ergab, dass sich nach langer, genauer Untersuchung erwies, die (...) Beschuldigungen (...) seien gegen alle Wahrheit geäußert worden. Die Person, die angeblich zufolge der (Schuld) des (Metropoliten) von Pyrgion gehängt und geschunden wurde (...) und auf diese Art ihr Leben lassen musste, wurde weder gehängt noch geschunden, sondern nur an den Füßen gebunden, erkrankte danach an einem natürlichen Leiden und starb nach geraumer Zeit."
Abb. 5: Eintrag in das Register des Patriarchats von Konstantinopel, 14.
Jh. (Handschrift heute in der Österreichischen Nationalbibliothek)
Auch andere Quellen deuten auf ausführlichere Ermittlungen hin, die notwendig waren, um einen Übeltäter zu überführen: wollte man etwa jemandem die Manipulationen von Münzen, oder Handelsgewichten nachweisen, dann musste das corpus delicti eingehender untersucht werden. Endete eine tätliche Auseinandersetzung mit dem Tod eines der Kontrahenten, so schrieb das bereits erwähnte Rechtsbuch des Harmenopulos im 14. Jh. vor, dass etwaige als Waffen eingesetzte Objekte für spätere Untersuchungen aufbewahrt werden sollten (Hexabiblos VI, 6, 9). Auch mancher Mordfall erforderte nicht geringen Spürsinn; in den Vorschriften für den Stadteparchen wird auf Seifenhersteller hingewiesen, die bestimmte Chemikalien verkauften, mit denen jemand vergiftet werden konnte. Wurde einem Seifenproduzenten derartiges nachgewiesen, dann sollte er wie ein Mörder mit dem Tode bestraft werden. Auch die byzantinische Medizin als Erbin der antiken Heilkunst kannte viele Substanzen pflanzlichen, tierischen oder mineralischen Ursprungs, die sowohl als Heilmittel als auch als Gift eingesetzt werden konnten; eine Schrift des Arztes Nikolaos Myrepsos aus dem 13. Jh. umfasst mehr als 2600 solcher Rezepte. Schwieriger als die Herstellung war allerdings der Nachweis solcher Gifte - und blieb es bis ins 20. Jh.
In diesen und anderen Fällen griff man auch im mittelalterlichen Konstantinopel auf Sachverständige zurück; sie begegnen uns etwa bei Ermittlungen wegen Urkundenfälschung: so wird von kundigen Männern 1315 vor dem Synodalgericht ein angeblicher Nutzungsvertrag über ein strittiges Grundstück aufgrund verschiedener Merkmale als Fälschung entlarvt, die sogar einem bereits gerichtsbekannten Notar, der wegen ähnlicher Fälle seines Amtes enthoben worden war, zugewiesen werden kann (PRK I, Nr. 23). Ging es um Schäden an Leib und Leben, kamen Ärzte und anderes medizinisch geschultes Personal zum Einsatz; im Fall des Missbrauchs eines noch minderjährigen Mädchens durch ihren Bräutigam (vgl. PRK I, Nr. 89) wurde von der Synode "eine Hebamme beigezogen, die sie untersuchte, wie es in derartigen Fällen üblich ist", wie es im Text des Protokolls heißt. Auch die Untersuchung und Obduktion von Leichen durch Ärzte ist in byzantinischen Quellen belegt, allerdings nicht zur Klärung von Verbrechen. Manchmal wurden Angehörige der medizinischen Berufe selbst zu Tätern: der Arzt Syropulos, der auch wegen Zauberei angeklagt wurde, gab 1370 vor der Synode zu, einen Trank verkauft zu haben, der die Leibesfrucht abtreiben sollten; dies war in Byzanz strafbar (PRK IV).
Abb. 6: Medizinische Instrumente aus byzantinischer Zeit
War ein Übeltäter eines Verbrechens überführt, verhängte das Gericht die in den gesetzlichen Bestimmungen vorgesehene Strafe, im Fall des kirchlichen Gerichts vor allem den zeitweiligen oder dauerhaften Ausschluss aus der kirchlichen Gemeinschaft, bei Klerikern auch die Degradierung oder Amtsenthebung. In manchen Fällen zeigte sich die Synode sehr gnädig: die stadtbekannte, reuige Zauberin Amarantina etwa durfte sich in ein Kloster zurückziehen, während ihr zur selben Zeit in Westeuropa wohl der Scheiterhaufen gedroht hätte (PRK III, Nr, 180 und 185). Im entsprechenden Dokument heißt es dazu: "(Gott) will nämlich nicht den Tod des Sünders, sondern seine Umkehr und sein Leben, da es auch keine Sünde gibt, die über die Güte Gottes siegt."
Die staatlichen Gerichte verhängten aber gleichzeitig oft viel härtere Strafen; sie reichten von der Aberkennung der Ehre und öffentlicher Demütigung über Geldbußen, Enteignung der Güter und Verbannung bis hin zur Zwangsarbeit und einer ganzen Reihe von Körperstrafen, von der Prügelstrafe über die Verstümmelung (Abschneiden der Hand oder Nase) und Blendung bis hin zur Todesstrafe, etwa durch Enthauptung, Erhängen oder Verbrennung. Auch die Folter fand zur "Wahrheitsfindung" durchaus Einsatz. Ziel war die "gerechte Bestrafung der Übeltäter und die Abschreckung derjenigen, die zu Verfehlungen neigen", wie es im kaiserlichen Gesetzbuch der Ekloga (8. Jh.) heißt. Positiver wird aber der Zweck von Verbrechensbekämpfung und Rechtsprechung in einem anderen Kaisergesetz formuliert: "dass das Menschengeschlecht sein Zusammenleben harmonisch gestalte und nicht der eine den andern gewaltsam unterdrücke" (Eparchenbuch).
Abb. 7: Hinrichtung durch das Schwert (byzantinische Handschrift des 12.
Jh.s)
Link: https://www.oeaw.ac.at/byzanz/sprache-text-und-schrift/editionen-und-editorik/patriarchatsregister/ (Projekt zum Patriarchatsregister von Konstantinopel an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften; Projektleiter: Doz. Dr. Christian Gastgeber)