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Regen für Saladin. Klimageschichte und die Kreuzzüge

Die Kreuzzüge fielen in eine Periode durchaus wechselhafter klimatischer Bedingungen in Europa und im Nahen Osten, die in die historische Analyse der kriegerischen Ereignisse einbezogen werden müssen.

 

Die mittelalterliche Warmzeit und ein Jahrzehnt der Krise in Westeuropa

Eine Rekonstruktion der generellen Temperaturtrends auf der nördlichen Hemisphäre für die letzten 2000 Jahre zeigt, dass auf eine seit ca. 300 v. Chr. anhaltende relative Warmzeit (das sogenannte „Römische Klima-Optimum“, das wohl auch die Expansion des Imperium Romanum begünstigte) ab dem 3./4. Jh. und insbesondere 6. Jh. n. Chr. eine Abkühlung folgte, die zusammen mit den Umwälzungen der „Völkerwanderungszeit“ und auch der ab 541 im Mittelmeerraum ausbrechenden, in insgesamt 18 Wellen bis 750 wiederkehrenden Beulenpestpandemie zu einem demographischen Rückgang beitrug. Ab dem 9. Jh. trat wieder eine Warmperiode ein, das sogenannte „Mittelalterliches Klimaoptimum“, wie es ein weiterer Pionier der Klimageschichtsforschung, H. H. Lamb, in den 1960er Jahren nannte; diese Jahrhunderte bis ins 14. Jh. waren in West-, Mittel- und Nordeuropa von wärmeren Bedingungen mit weniger strengen Wintern geprägt. Bekannte Nutznießer dieser Warmzeit waren u. a. die Wikinger, deren Besiedelung Islands und insbesondere Grönlands dadurch begünstigt wurde. Von England bis Zentraleuropa lässt sich ein Bevölkerungsanstieg und eine Ausweitung der landwirtschaftlichen Nutz- und der Siedlungsflächen sowie der Anzahl der Stadtgründungen beobachten, die sogenannte „zweite Phase des Landesausbaus im europäischen Kontext“ ab dem 10. Jh. Dass dabei „Kolonisierung“ durchaus mit militärischer Expansion in die Peripherien der „lateinischen Welt“, aber auch in muslimisch beherrschte Gebiete wie auf der Iberischen Halbinsel oder auf Sizilien, einherging, wurde schon früh beobachtet und von Richard Bartlett in seinem Buch „Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt“ meisterhaft in einer Synthese zusammengefasst. Es wuchs nicht nur die Zahl der Bevölkerung insgesamt, sondern auch jene der Nobilität, sodass ein Überschuss an nicht erbberechtigtem Nachwuchs des Adels, so Bartlett, auf den Plan trat. Dass dieses Wachstum des „Humanpotentials“ der lateinischen Christenheit auch ein großangelegtes Kriegs- und Wanderungsphänomen wie den Ersten Kreuzzug begünstigte, wurde ebenfalls schon mehrfach vermutet.

Abb: Der rekonstruierte Verlauf der durchschnittlichen Wintertemperatur in der nördlichen Hemisphäre in den Jahren 200 bis 2000 n. Chr. im Vergleich mit der durchschnittlichen Wintertemperatur in den Jahren 1960-1990 (= 0): der Klimaverlauf vom „Römischen Klima-Optimum“ zur spätantiken Abkühlung zum „Mittelalterlichen Klimaoptimum“ (ca. 800-1200) und schließlich zur „Kleinen Eiszeit“ wird deutlich (nach: Rivista di Storia Economica 21/3 [2005])

Manche Forscher weisen dabei aber auch auf Anzeichen einer großen Versorgungskrise hin, die aufgrund mehrerer Jahre ungünstiger Witterung in den 1090er Jahren West- und Mitteleuropa erfasste und durch die höheren Bevölkerungsdichten noch stärker wirken musste als in früheren Jahrhunderten. Zuletzt wurden diese Befunde von Philip Slavin in seinem Beitrag „Crusaders in Crisis“ zusammengefasst; er sammelte eine Menge von Belegen für Dürre, Hungersnot und Seuchen in Frankreich, dem Rheingebiet und Deutschland (aber z. B. auch in Russland) in den Jahren 1093-1095 und die damit verbundenen sozialen Unruhen und Ausschreitungen. Insbesondere für breitere Massen der Bevölkerung, die sich dann dem sogenannten „Armenkreuzzug“ anschlossen, der noch vor den Armeen der Hochadeligen in Kleinasien eintraf, dort aber vernichtet wurde, musste die Aussicht nicht nur auf einen Ablass der Sünden, sondern auf ein „Land, wo Milch und Honig fließen“, wie es in der Bibel über das Heilige Land hieß, besonders anziehend wirken. Dieser klimatische Aspekt der Entstehung der Kreuzzugsbewegung wird bislang nicht allgemein anerkannt (wiewohl er keineswegs andere Aspekte aus dem Bündel an Hintergründen für den Kreuzzug verdrängen soll), aber weitere Forschung kann hier neue interessante Ergebnisse bringen.

Abb.: Der vom „Mittelalterlichen Klimaoptimum“ in Mittel- und Westeuropa begünstigte Landesausbau: die Rodung des Waldes und Gründung eines neuen Dorfes, Szene aus dem Heidelberger Sachsenspiegel um 1300 (www.wikipedia.com)

 

Das Klima im mittelalterlichen Nahen Osten

Anders als in Westeuropa waren im Nahen Osten nicht nur die naturräumlichen Bedingungen, sondern auch die Klimaentwicklung in diesen Jahrhunderten. Wird der Nahen Osten auch meist mit dem Begriff der Wüste verknüpft, so zeigt er sich tatsächlich sehr vielgestaltig; dennoch war und ist die Versorgung von Mensch, Vieh und Ackerbau mit Wasser in vielen Regionen ein wesentliches Problem. Dies gilt auch für die Zone des Mittelmeerklimas, das durch warme, trockene Sommer und warme, niederschlagsreichere Winter gekennzeichnet ist. Ein Kriterium für die Bestimmung dieser Zone ist die „Ölbaumgrenze“, also der Gebiete der Kultivierung des Olivenbaums; sie umfasst im Nahen Osten die westlichen und südlichen Küstengebiete Kleinasiens, Syrien bis jenseits des Euphrat, den Libanon und die Küsten Palästinas sowie die Kyrenaika in Libyen (bis ins 7. Jh. allesamt Provinzen des Byzantinischen Reiches).

Abb.: Die gegenwärtigen Niederschlagsverhältnisse in Syrien, Palästina und Kleinasien (Isohyeten = Linien gleicher Jahresniederschlagsmengen; die Grenze für Ackerbau ohne künstliche Bewässerung liegt bei 300-400 mm) (nach: W. Nützel, Einführung in die Geo-Archäologie des Vorderen Orients, Wiesbaden 2004, 4)

 

Südlich von Kleinasien werden die Gebiete anschließend an die Zone mediterraner Vegetation durch das Wüstenklima bestimmt; sein Hauptkennzeichen ist die Aridität, d. h. die Verluste durch Verdunstung sind größer als die Summe der Niederschläge. Wo es keine Oasen gibt oder die Bewässerung durch Flusssysteme wie Euphrat und Tigris in Mesopotamien oder den Nil in Ägypten gewährleistet wird, ist Landwirtschaft nur durch künstliche Bewässerung möglich. Dazu entwickelten die Menschen in der Region schon früh aufwendige Anlagen wie die Qanate, horizontale, durch das Gestein getriebene Kanäle, die Trink- und Nutzwasser aus Bergregionen den bewohnten und bebauten Gebieten zuführen; diese Technik wurde zuerst im Iran entwickelt und verbreitete sich dann, auch im Gefolge der arabischen Eroberung, über die gesamte islamische Welt bis nach Spanien. Aber auch in Mesopotamien und Ägypten waren der Bau und ständige Erhalt aufwendiger Kanalanlagen notwendig, um die Bewässerung möglichst großer Flächen zu gewährleisten. Dann aber konnten diese Gebiete reichhaltige Erträge liefern; Ägypten diente für Rom und bis zur arabischen Eroberung auch für Konstantinopel als Getreidelieferant.

Die Randzonen zwischen bebauten Gebieten und Wüste bzw. Steppe wurden von viehzüchtenden Nomaden genutzt; zwischen Ackerbauern und Nomaden konnte sich eine durchaus nutzbringende Symbiose entwickeln, doch ergaben sich auch Konflikte, etwa um die Nutzung von Wasserquellen. Die Geschichte des Nahen Ostens wird mehrfach durch das gewaltsame Vordringen nomadischer Gruppen in die landwirtschaftlich intensiv genutzten Gebiete, sei es aus der arabischen Wüste (arabische Expansion im 7. Jh.), sei es aus Zentralasien (Turkmenen im 11. Jh., Mongolen im 13. Jh.) bestimmt, zu dem nicht zuletzt auch klimatische Veränderungen beitrugen.

Das Wetter des Nahen Ostens wird durch ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Hoch- und Tiefdruckgebiete bestimmt, vom Islandtief und Azorenhoch im Westen (deren Unterschiede in der Nordatlantikoszillation, NAO, gemessen werden), über das Sibirien-Hoch im Osten, das bei stärkerer Ausprägung kalte Luft bis an das östliche Mittelmeer bringt, bis zu den Subtropischen Hochdruckgebieten, die von Süden her auf den Nahen Osten wirken und auch mit den Strömungssystemen der südlichen Hemisphäre und deren Oszillationen, etwa der berühmt-berüchtigten El Niño-Oszillation (ENSO) zusammenhängen.

Deshalb ergeben Messungen auf der Grundlage von Proxydaten aus verschiedenen Orten der Region als auch Auswertungen schriftlicher Quellen z. T. signifikante Abweichungen vom oben skizzierten globalen Trend oder der zur selben Zeit zu beobachtenden Entwicklung in Westeuropa. Pollenanalysen aus Jableh an der syrischen Küste sowie des Seespiegels des Toten Meeres etwa lassen für Syrien und Palästina auf eine relativ trockene Periode zwischen 600 und 1000 n. Chr., also der Zeit der arabischen Expansion und Herrschaft schließen, wobei das 10. Jh. (die Zeit byzantinischer Expansion in Nordsyrien) besonders trocken ausfiel.

Abb.: Spuren ehemaliger Bewässerungsterrassen aus römischer und byzantinischer Zeit in der Negev-Wüste (www.wikipedia.com)

 

Eine wertvolle klimageschichtliche Quelle sind auch die bis ins 7. Jh. n. Chr. zurückreichenden Aufzeichnungen über den Hoch- und Niederstand der von den Regenfällen in den Quellgebieten in Äthiopien und in Äquatorialafrika abhängigen Nilflut, die den Ertrag der Ernte in Ägypten ganz wesentlich beeinflusste, wobei sowohl zu niedrige als auch zu hohe Flutereignisse verheerende Folgen haben konnten. Während die Schwankungen zwischen Jahrzehnten mit meist hohen und solche mit meist niedrigen Fluten zwischen 700 und 930 relativ moderat ausfielen, folgte zwischen 930 und 1070 eine Periode überdurchschnittlich niedriger Nilfluten, darunter eine Reihe katastrophaler Niedrigfluten in den 950er und 960er Jahren, die zu sozialen Unruhen in Ägypten beitruge und damit vielleicht die Machtübernahme durch die aus Nordafrika kommenden Fatimiden begünstigte. Für Mesopotamien sowie für Anatolien und Armenien zeigen Quellen und Proxydaten für die erste Hälfte des 10. Jh.s eine Reihe besonders kalter und feuchter, mit Schneefall bis hin nach Bagdad verbundener Winter an, die ebenfalls zu Hungersnöten führten. Einen solchen Extremwinter belegen die byzantinischen Quellen etwa für das Jahr 927/928; der Historiker Ioannes Skylitzes schreibt: „In diesem Jahr gab es einen unerträglichen Winter mit dem Ergebnis, dass der Boden 120 Tage lang gefroren war. Eine große Hungersnot, die jene der Vergangenheit übertraf, folgte auf diesen Winter. Der Verlust an Leben war so groß, dass die Lebenden die Toten nicht begraben konnten.“

In der zweiten Hälfte des 10. Jh. stabilisierten sich die Witterungsverhältnisse im Nahen Osten, um aber im 11. Jh. von einer noch dramatischeren Periode der Kälte, aber auch der Dürre abgelöst zu werden, deren dramatischen demographischen und politischen Folgen Richard W. Bulliet schon 2009 und zuletzt der in Jerusalem lehrende historische Geograph Ronnie Ellenblum in seinem Buch „The Collapse of the Eastern Mediterranean“ (2012) zusammengefasst und gedeutet hat. Für dieser Jahrzehnte werden in der Chronik des Ibn al-Jawzi erneut mehrere Winter mit Schnee und Frost für Bagdad beschrieben; zum Winter 1026/1027 heißt es etwa: „In diesem Jahr gab es von November bis Jänner durchgehend eine Kälte, wie sie niemand zuvor gekannt hatte. Das Wasser fror ganz fest in dieser Zeit, einschließlich der Ufer des Tigris und der weiten Kanäle. Die Wasserräder und kleineren Kanäle waren gänzlich zugefroren. Die Menschen litten unter dieser strengen Kälte, und viele wurden dadurch gehindert, irgendetwas zu tun oder herumzureisen.“ (Übers. Bulliet)

Abb.: Rekonstruktion der der Temperatur- und Niederschlagbedingungen im Nahen Osten im 11. Jh. aufgrund verschiedener naturwissenschaftlicher Proxydaten (aus: Preiser-Kapeller, A Collapse of the Eastern Mediterranean?)

 

Bulliet und Ellenblum bringen diesen „Big Chill“ überzeugend mit der Migration turkmenischer Nomadenverbände unter der Führung des Clans der Seldschuken aus dem besonders stark betroffenen Zentralasien in die Grenzgebiete zum Iran in den ersten Jahrzehnten des 11. Jh.s in Verbindung. Während mehrere Staaten des Nahen Ostens aufgrund der wiederkehrenden Extremereignisse und Hungersnöte sowie damit einhergehender sozialer Unruhen geschwächte waren, so das Szenario von Ellenblum, herrschte auch in den zentralasiatischen Steppen eine anormale Kältewelle vor (sie wird auch durch Proxydaten belegt). Sie schädigte, das dokumentieren verschiedene Schriftquellen, die Herden der Nomadenstämme, was zu Kämpfen zwischen verschiedenen Stämmen und zu einer steigenden, in die südlichen Regionen gerichteten Mobilität verschiedener Verbände führte.

Abb.: Die Stadt Safed nordwestlich des Sees Genezareth während eines winterlichen Schneefalls (www.wikipedia.com)

 

Dadurch wurde letztlich die politische Landkarte des Nahen Ostens gewaltig verändern, da die Seldschuken sowohl in Persien als auch in Mesopotamien und Syrien die Macht erringen konnten. 1071 erstritten sie einen Sieg über die Byzantiner in der Schlacht bei Mantzikert (nördlich des Vansees in Ostanatolien), der eine Migration nach und Staatsgründungen in Anatolien folgten. Derart bedrängt, wandten sich byzantinische Kaiser mit der Bitte um Waffenhilfe (in der Hoffnung auf westliche Söldner, nicht aber auf einen Kreuzzug) an den Papst; diese Appelle wurden gemeinsam mit anderen Nachrichten über die Not der Christen aufgrund der seldschukischen Invasion zum Anlass des Kreuzzugsaufrufes des Papstes. Dass der Erste Kreuzzug dann in einer durch die vorangegangenen politischen und klimatischen Wechselfälle des 11. Jh.s stark destabilisierte und geschwächte nahöstliche Staatenwelt vorstoßen konnten, mag zu seinem Erfolg nicht unwesentlich beigetragen haben. Die Kreuzfahrer gelangten damit in den Besitz eines Landes, dessen Zustand aufgrund der jüngsten, aber auch früheren Umwälzungen nur wenig den durch die Bibel genährten paradiesischen Vorstellungen entsprach. Jedoch war die Zeit zwischen 1100 und 1250, also der Etablierung der Kreuzfahrer, wie Pollenanalysen und Rekonstruktionen des Seespiegels des Toten Meeres zeigen, im Vergleich zu den Jahrhunderten davor von feuchteren Witterungsverhältnissen gekennzeichnet; den Neusiedlern aus Europa war also so wie in ihrer alten Heimat zeitweilig ein recht günstiges Klima vergönnt. Unterbrochen wurde diese Periode allerdings erneut durch ausgesprochene Kälteperioden in der Zeit um 1085/1095 (also kurz vor der Ankunft der Kreuzfahrer), um 1145 und um 1240/1260. Mit diesen Bedingungen hatten auch die doch Zehntausenden Siedler aus Europa zurecht zu kommen, die neben den Städten verschiedene Dörfer vor allem um Jerusalem sowie in jenen Gebieten besiedelten, wo schon vor dem Ersten Kreuzzug eine christliche Mehrheitsbevölkerung bestand. Im Austausch mit den einheimischen Bauern mussten sie lernen, trotz der oft extremen Niederschlags- und Temperaturverhältnisse ausreichend Erträge zu bewirtschaften. Ein Ende bereitete dieser Siedlungstätigkeit dann aber nicht das Klima, sondern die militärischen Niederlagen der Kreuzfahrer ab dem Ende des 12. Jh.s.

Abb.: Die Höhen von Hattin, Ort der entscheidenden Schlacht zwischen Salah ad-Din und den Kreuzfahrern im Juli 1187 (www.wikipedia.com)

 

Das Ende der Kreuzzüge und der Beginn der Kleinen Eiszeit

Zwischen 1070 und 1180 fielen auch die Nilfluten im Durchschnitt sehr hoch aus, allerdings zeitweilig zu hoch mit katastrophalen Auswirkungen wie etwa in den 1160er Jahren – diesmal wohl zum Nachteil der Fatimidendynastie, deren Herrschaft in Ägypten 1171 von Salah ad-Din abgelöst wurde. Ab dem Ende des 13. Jh.s zeigen dann alle Indikatoren sowohl sinkende Temperaturen als auch sinkende Niederschläge für Syrien und Palästina an; die Kreuzfahrerherrschaften waren zu diesem Zeitpunkt aber schon von den seit 1250 in Ägypten und Syrien herrschenden Mamluken zerschlagen geworden, 1291 fiel Akkon als letzte Stadt. 

Abb.: Die Übergang von feuchteren zu trockeneren Bedingungen am Ende des 12. Jh.s in den Kohlenstoffisotopendaten der Sofular-Tropfsteinhöhle in der Nordwest-Türkei (aus: Preiser-Kapeller, A Collapse of the Eastern Mediterranean?)

 

Die als „Mittelalterliches Klima-Optimum“, für den Nahen Osten aber, wie wir gesehen haben, gar nicht so optimal verlaufende relative Warmzeit endete auch global auf der nördlichen Hemisphäre mit dem 14. Jh., das neben einer mit solchen Übergangsperioden verbundenen Häufungen von Extremereignissen erneut wie das 6. Jh. durch eine verheerende, ebenfalls Jahrhunderte wiederkehrende Pestpandemie (den „Schwarzen Tod“) gekennzeichnet war. Eine bis ins 19. Jh. andauernde relative Kälteperiode, die „Kleine Eiszeit“, bestimmte das Klimageschehen. Die „Krise des Spätmittelalters“ machten auch alle Pläne zunichte, durch neuerliche Kreuzzüge das Heilige Land für die Christenheit zurückzugewinnen, die immer wieder in theoretischen Traktaten und päpstlichen Aufrufen gewälzt wurden. Weder beim Volk noch bei den Herrschern Europas stießen diese Appelle auf ein mit dem 11. oder 12. Jh. vergleichbares Echo – das „Klima der Kreuzzüge“ war in jeder Hinsicht vorbei.

Abb.: Schneefall in Jerusalem im Dezember 2013.

 

Autor: Johannes Preiser-Kapeller, ÖAW – RGZM (Johannes.Preiser-Kapeller@oeaw.ac.at)

 

Bibliographie:

R. Bartlett, Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt. Eroberung, Kolonisation und kultureller Wandel von 950 bis 1350, München 1998.

W. Behringer, Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München 2007.

R. Brázdil/ Ch. Pfister/ H. Wanner/ H. von Storch/ J. Luterbacher, Historical Climatology in Europe – the State of the Art, Climatic Change 70 (2005), 363–430.

R. W. Bulliet, Cotton, Climate, and Camels. A Moment in World History, New York 2009.

R. Ellenblum, The Collapse of the Eastern Mediterranean. Climate Change and the Decline of the East, 950-1072, Cambridge 2012.

E. A. B. Eltahir/G. Wang, Nilometers, El Niño, and Climate Variability, Geophysical Research Letters 26/4 (1999), 489-492.

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O. M. Göktürk, Climate in the Eastern Mediterranean Through the Holocene Inferred from Turkish Stalagmites. Ph.D.-Thesis, Universität Bern 2011, 113 S.

F. A. Hassan, Extreme Nile floods and famines in Medieval Egypt (AD 930–1500) and their climatic implications, Quaternary International 173–174 (2007), 101–112.

A. S. Issar – M. Zohar, Climate Change – Environment and History of the Near East, 2. Aufl., Berlin – Heidelberg 2007.

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Y. Karmon, Israel. Eine geographische Landeskunde, Darmstadt 1983.

J. Luterbacher u. a., A Review of 2000 Years of Paleoclimatic Evidence in the Mediterranean, in: P. Lionello (Hrsg.), The Climate of the Mediterranean region: from the past to the future, Amsterdam 2012, 87–185.

M. McCormick u. a., Climate Change during and after the Roman Empire: Reconstructing the Past from Scientific and Historical Evidence, Journal of Interdisciplinary History 43, 2 (2012), 169–220.

J. Preiser-Kapeller, Dürre, Sturm und wilde See. Eine kurze Klimageschichte der Kreuzzüge (11.-15. Jh.). Karfunkel – Zeitschrift für erlebbare Geschichte. Combat-Sonderheft 10 (2014), 46-55 (ausführlichere Version dieses Blog-Beitrags)

J. Preiser-Kapeller, A Collapse of the Eastern Mediterranean? New results and theories on the interplay between climate and societies in Byzantium and the Near East in the Comnenian period, 11th-13th century (in Vorbereitung)

Ph. Salvin, Crusaders in Crisis: towards the Re-Assessment of the Origins and Nature of the „People´s Crusade“ of 1095-1096, Imago Temporis. Medium Aevum 4 (2010), 175-199.

I. G. Telelis, Climatic Fluctuations in the Eastern Mediterranean and the Middle East AD 300–1500 from Byzantine Documentary and Proxy Physical Paleoclimatic Evidence – a Comparison, Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik 58 (2008), 167-207.

Tabula Imperii Byzantini (TIB), hrsg. von H. Hunger, J. Koder u. a. Wien 1976ff. (Grundlagenwerk zur Geographie der verschiedenen byzantinischen Gebiete, bislang 11 Bände erschienen, sechs weitere derzeit in Vorbereitung, vgl. auch https://www.oeaw.ac.at/byzanz/tibpr.htm)

V. Winiwarter/M. Knoll, Umweltgeschichte. Eine Einführung, Köln 2007.

E. Xoplaki, et. al. (Hrsg.), Medieval Climate Anomaly, Pages News 19/1 (März 2011; online: https://www.pages-igbp.org/download/docs/NL2011-1_lowres.pdf).

 

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Braveheart, Facebook und Karate

Das neue Projekt „Mapping Medieval Conflicts“ an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) untersucht Konflikte im Mittelalter mit digitalen Methoden der Netzwerkanalyse

 

Sind es übergreifende Ideologien und Unterscheidungen (nach Klasse, Rasse, Nation oder Religion), die den Ausbruch und den Verlauf von Konflikten steuern und menschliche Gemeinschaften in Gegnerschaft zueinander setzen – die „Makro-Ebene“, von der die Dynamik des Konflikts „top-down“ bestimmt wird? Oder müssen bewaffnete Konflikte als die Summe und das Ergebnis individueller Entscheidungen und Gewalttaten verstanden werden, manchmal verübt zwischen Menschen, die lange Zeit eng nebeneinander lebten (etwa während der Bürgerkriege im zerfallenden Jugoslawien) – die „Mikro-Ebene“, von der aus „bottom-up“ die Konfliktdynamik hervorgeht (das Muster, nach der etwa auch Hollywood das Mittelalter erzählt, z. B. in Mel Gibson´s „Braveheart“)?

Für moderne wie für mittelalterliche Gesellschaften müssen beide Ebenen eng miteinander verflochten werden, um zu einer angemessenen Analyse von Konflikten zu gelangen. Doch auch für den Historiker werden komplexe Gemengelagen individueller und gemeinschaftlicher Konfliktaustragung oft unübersichtlich und schwer zu entwirren.

Instrumente, um solche Verflechtungen von der Ebene des Individuums bis zu jener ganzer staatlicher Gemeinschaften systematisch zu erfassen, zu visualisieren und zu analysieren bietet die soziale Netzwerkanalyse. Seitdem der Netzwerkbegriff insbesondere durch „social networks“ wie Facebook in aller Munde ist, hat er auch in den historischen Wissenschaften Hochkonjunktur. Der Netzwerkanalyse liegt die Annahme zugrunde, dass soziale Verflechtungen nicht nur relevant sind, sondern „dass sie in einer signifikanten Weise organisiert sind, dass z. B. dieses oder jenes Individuum aufgrund seiner Bindungen eine interessante Position einnimmt“ (Cl. Lemercier, 2012) oder das Beziehungen in Gruppen in bestimmten strukturellen Mustern auftreten. Um diese Muster zu erfassen, werden soziale Netzwerke in Form von Netzwerkgraphen erfasst – mit „Knoten“, d. h. den Individuen oder anderen Entitäten, die in Beziehung stehen, und „Kanten“, die als Linien die Beziehungen zwischen den Knoten darstellen. Sie dienen sowohl der Visualisierung von Netzwerken als auch als Grundlagen weiterer quantitativer Analyse der Strukturen der Verflechtungen. Dadurch können Unterschiede in der „Zentralität“ einzelner Knoten, etwa aufgrund der Anzahl ihrer Verbindungen oder ihrer günstigen Positionierung zwischen unverbundenen Gruppen von Knoten, ermittelt werden. Weitere Verfahren ermöglichen die Identifizierung von Clustern und Cliquen als Gruppen von Knoten, die enger untereinander verflochten sind als mit dem Rest des Netzwerks und z. B. unterschiedliche Parteiungen repräsentieren können. Und schließlich können Netzwerke in ihrer Gesamtheit im Hinblick auf die Dichte und „Belastbarkeit“ des Beziehungsgeflechts oder die (un)gleiche Verteilung zentraler Netzwerkpositionen untersucht werden.

Abb.: Einige Grundkonzepte der quantitativen Netzwerkanalyse (aus: Dave Gray, The Connected Company. O'Reilly & Associates 2012)

 

Daten für die Erstellung solcher Netzwerkgraphen sind aus mittelalterlichen Quellen natürlich sehr viel schwerer zu ermitteln als etwa für die Beziehungen zwischen Facebook-Usern. Die Speicher vergangener sozialer Verbindungen und Interaktionen sind zeitgenössische Chroniken und insbesondere hunderte, manchmal tausende Urkunden über Rechtsgeschäfte, Verwaltungsakte und auch Konflikte, die uns der Zufall der Überlieferung erhalten hat. Diese Texte (im Rahmen dieses Projekts auf Latein, Griechisch oder den jeweiligen Volkssprachen) müssen erst einmal gesichtet, entziffert, übersetzt und ausgewertet werden, ehe sich ihr Informationsgehalt für die weitere Untersuchung erschließt. Nicht zuletzt deshalb ist das Projekt „Mapping Medieval Conflicts“ am Institut für Mittelalterforschung der ÖAW eng an mehrere, international vernetzte Langzeitunternehmen für die Edition und Analyse mittelalterlicher Textbestände („Monumenta Germaniae Historica“, „Regesta Imperii“, „Prosopographisches Lexikon der Palaiologenzeit“) gekoppelt, die überhaupt die Voraussetzungen für ein derartiges Unterfangen garantieren.

Abb.: Ein Urkunde gewordenes soziales Netzwerk: die Bündnisurkunde des Mailberger Bundes von mehr als 200 Rittern, Herrn und Ständevertretern gegen Friedrich III., 1451/1452 (Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien)

 

 

Ein Beispiel: Bürgerkrieg in Byzanz. Zufälle, Netzwerke und Karate

Wie in vielen Teilen Europas und der alten Welt war auch für das Byzantinische Reich das 14. eine Zeit der Krise und des Konflikts. Äußere Feinde, eine mit Naturkatastrophen einhergehende Veränderung des Klimas und seit der Mitte des Jahrhunderts die Pest bedrohten die Existenz des Reiches, während sich das Kaiserhaus und die Elite in inneren Konflikten schwächten

Der erste dieser Bürgerkriege in den Jahren 1321 bis 1328 verdankte seinen Ausbruch ähnlich wie– zumindest laut Mel Gibson – die Revolte des Braveheart der Tat eines Mannes: Andronikos III. Palaiologos, Enkelsohn des regierenden Kaisers Andronikos II. und formell Mitkaiser des Reiches. Der 23jährige jüngere Andronikos hatte sich in eine schöne Adelige der Hauptstadt Konstantinopels verliebt, die ihre Gunst aber auch anderen jungen Aristokraten gewährte. Der eifersüchtige Kaiserenkel heuerte Mörder an, die des Nachts den Nebenbuhlern beim Haus der Geliebten einen Hinterhalt legen sollten. Doch der erste, der ihnen in die Hände fiel und sein Leben ließ, war der Bruder des Andronikos III., Manuel. Der erschütterte Großvater enterbte Andronikos III. und setzte einen anderen Nachfolger ein.

Doch Andronikos III. fand seine eigene Gefolgschaft insbesondere unter den jüngeren Vertretern der byzantinischen Aristokratie, die mit dem Regime des seit fast 40 Jahren mit eher geringem Erfolg regierenden älteren Andronikos höchst unzufrieden waren. Im Frühjahr 1321 erklärten der jüngere Andronikos und seine Anhänger Andronikos II. den Krieg und forderten die Wiedereinsetzung des Thronerben. Die Vertreter der Elite mussten sich nun entscheiden; die Polarisierung zwischen den Lagern erfasste die gesamte byzantinische Elite, wie ein Blick auf eine Visualisierung des Netzwerks der Gefolgschaftsbeziehungen dieser Gruppe (insgesamt 141 Individuen) für das Jahr 1321 deutlich zeigt.

Abb.: Das Gefolgschaftsnetzwerk der byzantinischen Elite (141 Personen) im Jahr 1321 (J. Preiser-Kapeller, IMAFO/ÖAW, 2014)

 

Wenn man die Verwandtschafts- und Freundschaftsbeziehungen zwischen diesen Personen erfasst, wird auch sichtbar, dass diese Entzweiung in vielen Fällen oft seit langem bestehende Netzwerke überlagerte.

Abb.: Netzwerke der Verwandtschaft (links) und der Freundschaft (rechts) zwischen den Mitgliedern der byzantinischen Elite 1321 (J. Preiser-Kapeller, IMAFO/ÖAW, 2014)

Der Physiker M. Newman entwickelte auch Algorithmen, die Sub-cluster, die intern strukturell stärker als mit dem Rest des Netzwerks verflochten sind, und somit potentielle Bruchstellen identifizieren. In einem Test wandte er sie auf Netzwerkdaten eines Karate-Clubs in den USA an, der für längere Zeit von Sozialwissenschaftlern beobachtet worden war und in dem die Polarisierung der Freundschaftsbeziehungen um zwei populäre Trainer schließlich zum Auseinanderbrechen des Vereins geführt hatte. Der Newman-Algorithmus ordnete die Knoten in einem Netzwerkgraphen für die Zeit unmittelbar vor dem Zerfall in zwei Gruppen, die mit Ausnahme eines Knotens identisch mit den zwei neuen Vereinen waren, die nach dem Auseinanderbrechen des Karate-Klubs entstanden waren.

Abb.: Identifizierung der Cluster und potentiellen Bruchstelle im Freundschaftsnetzwerk eines Karate-Clubs (aus: Newman, 2010)

Wenn wir diesen Algorithmus auf ein Netzwerkmodell aller Verwandtschafts-, Freundschafts- und Gefolgschaftsbeziehungen in der byzantinischen Elite für das Jahr 1321 anwenden, wird die tatsächliche Fragmentierung dieser Gruppe sichtbar. Neben zwei größeren Clustern von Knoten, die einem der beiden Kaiser zugewiesen werden, identifiziert das Verfahren kleinere Cluster, die strukturell nicht eindeutig einem der Lage angehören. Potentielle Trennungslinien und Fraktionsbildungen werden in einer systematischen Gesamtschau der relevanten Beziehungen somit bereits für einen Zeitpunkt vor dem tatsächlichen Ausbruch des Konflikts sichtbar.

Abb.: Identifizierung von Clustern im Netzwerk der byzantinischen Aristokratie mit Hilfe des Newman-Algorithmus: die Cluster von Andronikos II. (hellblau), Andronikos III. (dunkelblau) und der nicht eindeutig einem Lager zuzurechnenden Familien der Palaiologen (dunkelgrün), Kaballarios (gelb), Tornikes (hellgrün) und Metochites (rot) (J. Preiser-Kapeller, IMAFO/ÖAW, 2014)

 

Die engen sozialen und verwandtschaftlichen Verbindungen zwischen Vertretern der beiden Parteien trugen aber auch immer wieder zu einer Deeskalation des Konflikts bei; mehrfach wurden diese Kanäle genutzt, um zeitweilige Einigungen zwischen Andronikos II. und seinem Enkel zu erzielen, die eine neuerliche Anerkennung des jüngeren Andronikos als (Mit)kaiser und eine Teilung der Herrschaft zwischen den beiden vorsahen. Gleichzeitig aber konnte das grundlegende Zerwürfnis zwischen den Generationen der Elite erst beseitigt werden, als 1328 der alte Kaiser zur Abdankung gezwungen und die Vertreter des „alten“ Regimes von der Machtpositionen entfernt wurden (und oft so wie Theodoros Metochites ins Kloster gingen). Analysiert man die Fraktion des Andronikos III. quantitativ, so war sie zwar an Zahl kleiner, jedoch in der Struktur der Verflechtungen zwischen ihren Mitgliedern dichter „gestrickt“ und somit auch in krisenhaften Perioden der Auseinandersetzung belastbarer. Die Anhängerschaft des alten Kaisers war hingegen zahlreicher, jedoch in ihrer Gesamtheit im Hinblick auf ihre Netzwerkmuster loser geknüpft; hier kam es bald zu Übertritten auf die Seite des jüngeren Kaisers.

Die Kartierung und Analyse dieser Netzwerke liefert somit wertvolle neue Einblicke in die strukturellen Hintergründe des Verlaufs und Ausgangs dieses Konflikts. In der unmittelbaren sozialen Umwelt jedes Akteurs wie in der Führungsgruppe des Staates in ihrer Gesamtheit wirkten verschiedene kohäsive und zentrifugale Kräfte der Verflechtung gegen- und miteinander, die sowohl individuelle Entscheidungen als auch die Identität und den Erfolg von Gruppen maßgeblich beeinflussten.

Mapping Medieval Conflicts – die Ziele

Die verschiedenen Kategorien von Verflechtungen, ihre Bedeutung und ihr Zusammenspiel  für den Ausbruch und die Dynamik von Konflikten für einzelne Akteure, Gruppen und größerer Gemeinschaften in ihrer zeitlichen und räumlichen Dimension zu erfassen, zu kartieren und zu analysieren ist das Ziel von „Mapping Medieval Conflicts“. Damit eröffnet sich auch eine vergleichende Perspektive auf ähnliche Phänomene in anderen Epochen bis hin zur Gegenwart.

 

Auf technischer Ebene sind die Ziele des Projekts:

• Die Weiterentwicklung und Kombination einer Reihe von Software-Tools, die die relationale Erfassung mittelalterlicher Quellen und die Visualisierung und quantitative Analyse von sozialen und räumlichen Netzwerken erleichtern. Als softwaremäßige Datenbankgrundlage dient das in Wien von Stefan Eichert, der auch am Projekt mitarbeiten wird, für die Erfassung archäologischer Stätten und Funde sowie historisch-geographischer Daten entwickelte OpenAtlas-System (https://www.openatlas.eu/conc/).

• Die Entwicklung von Fallstudien, die eine "best practice" der Anwendung und Bewertung von Netzwerkanalyse-Tools für die mittelalterliche Geschichtsforschung etablieren (Distribution als „open data“)

• Die Schaffung einer Online-Plattform für die Präsentation von Daten, Methoden und Ergebnisse auch für die breite Öffentlichkeit (open access)

Angestrebt wird die Erarbeitung eines leicht adaptierbaren work flows von der Dateneingabe auf der Basis mittelalterlicher Quellen zur Erstellung, Visualisierung und Analyse von sozialen und räumlichen Netzwerkmodellen und ihrer Web-basierten Publikation und Präsentation. 

Abb.: Der „Workflow“ für das Projekt „Mapping Medieval Conflicts“

 

Um dies im Detail zu demonstrieren, konzentriert sich „Mapping Medieval Conflicts“ auf die Analyse von politischen Netzwerken und Konflikten zwischen Machteliten im mittelalterlichen Europa mit fünf Fallstudien:

• Die gegnerischen Parteien im Kampf um den deutschen Thron, 1198-1208 (Andrea Rzihacek, Renate Spreitzer)

• Koalitionen im Krieg von Kaiser Sigismund gegen Herzog Friedrich IV. von Tirol (Günter Katzler)

• Kaiser Friedrich III. und die Liga der Mailberger Koalition, 1451/52 (Kornelia Holzner-Tobisch)

• Fraktionen und Allianzen im Kampf von Maximilian I. um Burgund (Sonja Dünnebeil)

• Politische Fraktionen im 14. Jahrhundert in Byzanz (Johannes Preiser-Kapeller)

Abb.: Die Regionen der fünf Fallstudien des Projekts „Mapping Medieval Conflict“

 

„Mapping Medieval Conflicts“ wird die Erklärungskraft von Netzwerkkonzepten für Phänomene des politischen Konflikts in mittelalterlichen Gesellschaften bewerten. Dabei verwendet das Projekt die netzwerkartige Strukturierung durch moderne Software nicht nur als Instrument für die Organisation der Daten, sondern als heuristisches Werkzeug für die Rekonstruktion und Analyse des relationalen Charakters sozialer Phänomene der Vergangenheit. Somit wird auch der zusätzliche Nutzen von digitalen Werkzeugen über die Datenerhebung hinaus für die Erarbeitung neuer Forschungsfragen demonstriert.

Gleichzeitig etabliert die vergleichende Analyse dieser Konflikte in ihrer Dynamik von der Mikro- bis zur Makroebene das Mittelalter als Referenzpunkt für die Untersuchung ähnlicher Phänomene in Geschichte und Gegenwart abseits der eingangs erwähnten Klischees einer dunklen und blutrünstigen Epoche.

Autor: Johannes Preiser-Kapeller, ÖAW – RGZM

 

Literatur- und Internethinweise:

Robert Gramsch, Das Reich als Netzwerk der Fürsten. Politische Strukturen unter dem Doppelkönigtum Friedrichs II. und Heinrichs (VII.) 1225-1235. Ostfildern 2013.

J. Habermann, Verbündete Vasallen: Die Netzwerke von Grafen und Herren am Nordwestharz im Spannungsgefüge zwischen rivalisierenden Fürstgewalten (ca. 1250-1400). Norderstedt 2011.

E. Jullien, Netzwerkanalyse in der Mediävistik. Probleme und Perspektiven im Umgang mit mittelalterlichen Quellen. Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 100/2 (2013), 135–153.

Cl. Lemercier, Formale Methoden der Netzwerkanalyse in den Geschichtswissenschaften: Warum und Wie?, in: Müller, Albert; Neurath, Wolfgang (Hrsg.) (2012), Historische Netzwerkanalysen (Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 23/1). Innsbruck – Wien - Bozen, 16–41.

M. E. J. Newman, Networks. An Introduction. Oxford 2010.

J. Preiser-Kapeller, Complex historical dynamics of crisis: the case of Byzantium, in: S. Jalkotzy-Deger - A. Suppan (eds.), Krise und Transformation. Wien 2012, 69-127.

W. Reinhard, Freunde und Kreaturen. "Verflechtung" als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600. München 1979.

Das Projekt: https://oeaw.academia.edu/MappingMedievalConflict

Das go!digital-Programm der ÖAW: https://www.oeaw.ac.at/oesterreichische-akademie-der-wissenschaften/news/article/die-neuen-dimensionen-des-forschens/

Das Institut für Mittelalterforschung der ÖAW: https://www.oeaw.ac.at/imafo/

Der Interdisziplinäre Arbeitskreis „Digital Middle Ages“ am IMAFO: https://www.imafonet.at/dma/

Das OpenATLAS-Programm von Stefan Eichert: https://www.openatlas.eu/conc/

Weitere Beispiele der Visualisierung mittelalterlicher Netzwerke: https://oeaw.academia.edu/TopographiesofEntanglements

Plattform für historische Netzwerkanalyse: https://historicalnetworkresearch.org/

 

 

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Jenseits von Rom und Karl dem Großen

Forscher diskutierten in Wien globale und regionale Verflechtungen in der frühmittelalterlichen Welt zwischen 300 und 800 n. Chr.

„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde (im Griechischen: pasan ten oikumenen)“ (Lk 2, 1). Kaum ein anderer Satz vermittelt so deutlich wie der Beginn des Weihnachtsevangeliums den Anspruch des Imperium Romanum auf die Herrschaft über die damals bekannte Welt rund um das Mittelmeer. Diese „globale“ Dimension des Römischen Reichs war Voraussetzung für die Verbreitung des Christentums, ehe der neue Glaube Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. sogar zur Staatsreligion des Imperiums aufstieg. Die Christianisierung gehört aber auch zu jenen vom deutschen Althistoriker Alexander Demandt aufgelisteten 227 Faktoren, die in den letzten 1500 Jahren von Zeitgenossen und Gelehrten als mögliche Ursachen für den „Fall Roms“ herangezogen wurden.

Tatsächlich endete das römische Kaisertum im Westen des Reiches im Jahr 476, bestand aber im Osten (im später so genannten „Byzantinischen“ Reich) in Konstantinopel fast 1000 Jahre weiter. Einen entscheidenden Umbruch bedeutete dort nicht das fünfte, sondern das siebente Jahrhundert, als die unter dem Islam geeinten Araber das oströmische Reich seiner reichsten Provinzen in Syrien, Palästina und Ägypten beraubten und an den Rand des Untergangs brachten. Neben die Kaiser in Konstantinopel traten nun die Kalifen in Mekka, Damaskus und schließlich Bagdad als mächtigste Herrscher der „Ökumene“. Als mit der Krönung des Frankenkönigs Karl (gest. 814) zu Weihnachten 800 das römische Kaisertum im Westen erneuert wurde, hatten sich in der vormals geeinten römische Mittelmeerwelt drei imperiale Sphären etabliert, die jeweils den Kern der sich herausbildenden Islamischen Welt, der Orthodoxie und des „Abendlandes“ bilden sollten – so zumindest die traditionelle Deutung.

Die „Origins of European Economy“?

Islam, östliche und westliche Christenheit bildeten aber keineswegs monolithische, strikt voneinander abgegrenzte Blöcke, sondern waren durch vielfältige diplomatische, kulturelle und kommerzielle Beziehungen miteinander verknüpft. Die vom berühmten belgischen Historiker Henri Pirenne (1862-1935) aufgestellte These, demnach die islamische Expansion Handel und Verkehr zwischen den Nachfolgern des römischen Reiches nachhaltig unterbrochen hätte, wurde 2001 von Michael McCormick mit einer gewaltigen Sammlung historischen und archäologischen Materials auf mehr als 1000 Seiten eindrucksvoll wiederlegt. Auch im „dunklen“ siebenten und achten Jahrhundert wurde, obgleich auf geringerem Niveau, zwischen West und Ost gehandelt und gereist – und in der erneuten Intensivierung dieses Austauschs seit dem neunten Jahrhundert sieht McCormick die „Origins of European Economy“. Einen ähnlich breiten Bogen vom Kalifat bis Skandinavien spannte Chris Wickham in seinem Buch „Framing the Early Middle Ages“ (2005), konzentrierte sich aber auf die internen politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in den verschiedenen Regionen der „post-römischen“ Welt. Hinter den Ansätzen von McCormick und Wickham stehen auch widerstreitende Positionen der modernen Entwicklungsökonomie: ist die möglichst starke Verflechtung durch Netzwerke des Welthandels eine zentrale Voraussetzung wirtschaftlicher Entwicklung oder hängt regionales ökonomisches Wachstum viel eher von der inneren Dynamik ab, ja kann dieses vielleicht sogar durch die Integration in ein von Ungleichheit geprägtes „globales“ System zum Nutzen des imperialen Zentrums in peripheren Gebieten gehemmt werden (so etwa die Weltsystem-Theorie Immanuel Wallersteins)? Die Transformation der römischen Mittelmeerwelt verdient somit über die Suche nach den „Wurzeln Europas“ hinaus die Aufmerksamkeit der Wissenschaft.

Netzwerke in einer „post-römischen“ Welt

Auf jeden Fall wurde die mit dem Zusammenbruch des imperialen Systems im Westen des Römischen Reiches einhergehende Verringerung der Reichweite und Intensität der überregionalen Verflechtungen (ablesbar etwa an der Verbreitung von Keramik) auch von einer zum Teil dramatischen Reduktion der sozio-ökonomischen Komplexität und des Lebensstandards der Bevölkerung begleitet, wie Bryan Ward Perkins (Oxford) in seinem Buch “Der Untergang des Römischen Reiches und das Ende der Zivilisation“ (dt. 2007) darlegt. Dennoch brachen die Verbindungen in der post-römischen Welt nicht völlig ab. Diesen Phänomenen ging ein internationaler Kreis von Historikern und Archäologen zwischen dem 11. und dem 13. Dezember 2014 im Rahmen der Konferenz „Linking the Mediterranean“ an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien nach (mit Bryan Ward-Perkins als Hauptredner). Dort nimmt das Institut für Mittelalterforschung (IMAFO) mit den Wissenschaftlern um Walter Pohl eine weltweit führende Stellung insbesondere in der Erforschung der Entstehung der germanischen Völker und Reiche in dieser Zeit ein und hat mit dem Projekt „Visions of Community“ ebenfalls globale Perspektiven eröffnet.

An der Abteilung für Byzanzforschung (ABF) des IMAFO widmet sich der Organisator der Veranstaltung, David Natal, seit eineinhalb Jahren als Marie Curie-Fellow mit Förderung durch die Europäische Union insbesondere der Dynamik und Widerstandskraft kirchlicher Netzwerke während der Jahrzehnte des Zerfalls des weströmischen Reiches und danach. Betreut wird er dabei von Claudia Rapp (Universität Wien und ÖAW), einer ausgewiesenen Expertin für die Spätantike, die auch lange Jahre in Großbritannien und den USA geforscht hat. Für die Kartierung und Analyse dieser Verflechtungen bringt David Natal – in Kooperation mit Johannes Preiser-Kapeller (ABF/IMAFO, ÖAW) – Instrumente der digitalen Netzwerkanalyse zum Einsatz, die auch strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den Kommunikationsnetzen der Spätantike und modernen „social networks“ entdecken helfen.

Das Netzwerk der Straßen im römischen Reich (gelb) und das soziale Netzwerk des Bischofs Ambrosius von Mailand (374-397, rot) (© David Natal, 2014)

Die Fragmentierung des Römischen Reiches als Netzwerkmodel, 1: links Dichte und Reichweite der Verbindungen zwischen mehr als 5000 Siedlungspunkten bei aufrechten überregionalen Verbindungen (über mehr als 300 km), rechts das selbe Netzwerk nur mit regionalen Verbindungen (bis 40 km) (© J. Preiser-Kapeller, 2014)

Die Fragmentierung des Römischen Reiches als Netzwerkmodel, 2: links die Integration der Siedlungen des Reiches in überregionale Cluster bei aufrechten überregionalen Verbindungen (über mehr als 300 km), rechts die Fragmentierung nur mit regionalen Verbindungen (bis 40 km) (© J. Preiser-Kapeller, 2014)

Tatsächlich trat die Kirche in verschiedener Hinsicht an die Stelle des untergegangen Imperiums: über den ganzen Raum vom Mittelmeer bis zur Nordsee versuchte sie, Strukturen der kirchlichen Verwaltung und Seelsorge aufrecht zu erhalten. Päpste wie Gregor der Große (590-604) waren auch bestrebt, verlorenen Boden wieder gut zu machen und entsandten Missionare bis ins mittlerweile von heidnischen Angelsachsen eroberte Britannien. Das Christentum verbreitete sich sogar in Gebiete, die nie von den Römern erobert worden waren, wie nach Irland oder (im 7. und 8. Jh. wiederum mit Hilfe von irisch-schottischen und angelsächsischen Missionaren) in die germanischen Gebiete jenseits des Rheins. Gleichzeitig erfüllten Bistümer an vielen Orten Funktionen, die vormals die römische Verwaltung übernommen hatte, bis hin zur Herrschaft von Bischöfen, die sich zum Teil aus der spätrömischen Elite rekrutierten, über einzelne Städte. Daneben entstanden zahlreiche Klöster als neue Mittelpunkte der Gelehrsamkeit, aber auch der lokalen wirtschaftlichen Entwicklung. Durch die Mobilität von Klerikern, Mönchen und Pilgern oder die Translation von Reliquien wurden neue Netzwerke innerhalb der nunmehr christlichen Welt etabliert und symbolisch verstärkt: Bryan Ward-Perkins demonstrierte dies im Rahmen der Konferenz für die Verbreitung des Kults von Heiligen, Julia Hillner (Univ. Sheffield) für exilierte Kleriker und Francesca Conselvan, Philipp Dörler sowie Clemens Gantner (alle drei IMAFO/ÖAW bzw. Univ. Wien) an Hand der Präsenz griechischer und anderer „orientalischer“ Mönche im Rom des 8. Jh.s.

Größer als Rom – globale Verflechtungen

Neben dem Fokus auf Strukturen innerhalb des spät und nach-römischen Westeuropas hilft der Blick über die Grenzen Roms hinaus in den Nahen und Fernen Osten, um die Entwicklungen in unseren Breiten in eine (dann durchaus bescheidener wirkende) globale Perspektive zu bringen, wie insbesondere Charles Stang aus Harvard und Johannes Preiser-Kapeller von der ÖAW demonstrierten. Unmittelbarer Nachbar und Konkurrent im Osten war seit dem 3. Jh. n Chr. das Persische Reich der Sasaniden, das Rom im Gegensatz zu den „Barbaren“ an Rhein und Donau als durchaus gleichrangige Großmacht anerkennen musste. Dennoch werden Macht und Einfluss dieses Imperiums in einer rom-zentrieten Wahrnehmung oft noch unterschätzt. Im 5. Jh. errichteten die persischen Großkönige mit der in den letzten Jahren intensiv erforschten Mauer von Gurgan östlich des Kaspischen Meers eine gewaltige Befestigungsanlage gegen die Bedrohung aus der Steppe Zentralasiens, die mit 195 km fast doppelt so lange war wie der Hadrianswall. Der aristokratische Lebensstil der sasanidischen Elite fand Nachahmung in weiten Teilen Westasiens; einzelne Elemente wie das Polo-Spiel verbreiteten sich bis Byzanz und sogar China. Heftiger Konkurrent des Römischen Reiches waren die Sasaniden nicht nur bei der Kontrolle über Armenien und Mesopotamien, sondern auch auf den Routen des Fernhandels zu Lande durch Innerasien und zu Wasser auf dem Indischen Ozean, über die begehrte Luxusgüter wie Seide und Gewürze gehandelt wurden. Insbesondere im 6. und 7. Jh. eskalierte dieser Gegensatz in einer Reihe heftiger Kriege, bei denen beide Seiten nach Verbündeten von Zentralasien bis in den Jemen und Ostafrika suchten. Am Ende hatten die beiden Supermächte der Spätantike ihre Kräfte gegenseitig erschöpft; Nutznießer wurden die Araber, die unter dem Banner des Islam ab 636 Byzanz beinahe und das Perserreich zur Gänze eroberten.

Ein Indiz für die weitreichenden Verflechtungen zwischen dem Westen und dem Osten Eurasiens ist die Flucht der letzten Vertreter der Sasanidendynastie an den chinesischen Kaiserhof, mit dem bereits zuvor diplomatische Beziehungen bestanden hatten. Wichtige Vermittler auf den Routen zwischen Persien und China waren die Kaufleute der Städte Sogdiens (darunter als bedeutendste Samarkand im heutigen Usbekistan), deren Gemeinschaften sich seit dem 3. Jh. über ihr Kerngebiet hinaus entlang der „Seidenstraße“ bis in die Städte Zentralchinas verbreiteten. Diese Netzwerke wurden vorerst auch nicht durch die arabische Eroberung Persiens unterbrochen; im Gegenteil profitierten die Sogdier insbesondere von der Expansion Chinas unter den Kaisern der Tang-Dynastie (618-907), die nach vier Jahrhunderten politischer Fragmentierung (seit dem Ende der Han-Dynastie 220 n. Chr.) eine einheitliche Herrschaft über ganz China etablierten. Ihr Interesse an den Routen in den Westen und die von dort kommenden Produkte, für die sogdische Händler als Vermittler auftraten, wurde auch durch den Buddhismus motiviert, der sich seit dem 1. Jh. n. Chr. über ebendiese Handelswege von Indian nach China verbreitet hatte. Ähnlich wie Jerusalem die Christen bis hin nach Britannien, so lockten die heiligen Stätten des Wirkens Buddhas Pilger aus dem Reich der Mitte auf dem Land- und Seeweg nach Indien, von wo man auch wertvolle Reliquien und Schriften nach Hause mitbrachte. Doch Chang´an, die mehr als eine Million Einwohner zählende und über 80 km² große Hauptstadt der Tang, beherbergte nicht nur buddhistische Tempel und Klöster (deren Zahl im ganzen Reich in die Tausenden ging und ähnlich wie in Europa große wirtschaftliche Bedeutung erlangten), sondern auch Gemeinschaften des Zoroastrier, Manichäer, Juden und Christen, die ihren Weg über die Seidenstraßen in den Fernen Osten gefunden hatten. Diese „kosmopolitische“ Offenheit Chinas endete allerdings ab der Mitte des 8. Jh.s nach heftigen politischen Unruhen, die schließlich in den 840er Jahren in Verfolgungen der „nicht-chinesischen“ Religionen mündeten. Gleichzeitig verloren die Tang die Kontrolle über die Landrouten in den Westen, während die Araber die Städte Sogdiens eroberten, und somit von zwei Seiten die Blüte des sogdischen Handels beendet wurde.

Jedoch brachen Handel und Austausch zwischen dem Nahen und dem Fernen Osten nicht ab; sie verlagerten sich nur von der unsicher gewordenen Landroute auf den Seeweg. Schon seit der vorchristlichen Zeit hatten Seefahrer aus dem griechischen und römischen Ägypten, aus Ostafrika, Südarabien und Persien unter Nutzung der Monsunwinde die Routen im westlichen Indischen Ozean befahren. Archäologische und schriftliche Befunde deuten sogar darauf hin, dass persische Schiffe im 4.-7. Jh. über Indien hinaus bis nach Südostasien und vielleicht sogar bis China vorstießen. Im Gegenzug erfolgte eine Ansiedlung von Seefahrern aus Indonesien auf der Insel Madagaskar über eine Distanz von mehr als 6300 km. Diese Netzwerke wurden mit der arabischen Eroberung nicht unterbrochen. Ihre Bedeutung stieg sogar, als sich 762 das Zentrum des Kalifats nach Bagdad verlagerte, das über den Tigris direkt mit dem Persischen Golf verbunden war und schnell zu einer Millionenstadt und somit einem gewaltigen Absatzmarkt aufstieg. Gleichzeitig verschoben sich die demographischen und wirtschaftlichen Schwerpunkte in China immer mehr in den Süden des Landes, dessen agrarischen Überschüsse die Tang-Kaiser durch ein mehr als 2000 km langes Kanalsystem in ihre Hauptstädte im Norden transportieren ließen (man vergleiche diese Infrastrukturmaßnahmen mit dem Unterfangen Karls der Großen zum Bau eines Kanal zur Überbrückung der europäischen Wasserscheide zwischen Rhein und Donau über eine Distanz von nach neuesten Forschungen vielleicht 6 km). Dieser „Boom“ an den beiden Endpunkten der „maritimen“ Seidenstraße führte zu einem Anstieg im Volumen des Handels, der bis gegen Ende des 9. Jh. vor allem auf persischen und arabischen Schiffen (den Vorbildern für Sindbad) von statten ging. Tausende muslimische Händler siedelten sich in Guangzhou (besser bekannt als Kanton) an. Reichweite und Umfang dieses Netzwerke illustriert der sensationelle Fund eines arabischen Schiffes aus der ersten Hälfte des 9. Jh.s bei Belitung in Indonesien im Jahr 1998; seine Fracht bestand aus mehr als 60.000 Stück chinesischer Keramik (Porzellan), bestimmt für die Abnehmer am Persischen Golf. Das Schiff selbst war mit aus Ostafrika stammenden Baumstämmen gebaut worden, wies aber auch Reparaturen, die mit Holz in Südostasien durchgeführt worden waren, auf.

Netzwerkmodell der Verteilung von 12 Keramiktypen zwischen 36 Handelsorten im westlichen Indischen Ozean zwischen 300 und 600 n. Chr. (© J. Preiser-Kapeller, 2014)

 

Das „Abendland“ als westliche Peripherie

Von der Perspektive dieses auf den Indischen Ozean hin zentrierten „Weltsystems“ hatte schon das Imperium Romanum nur eine Position an der westlichen Peripherie einnehmen können. Die Verbreitung jener Güter, die aus diesem Raum in die mediterrane Sphäre Roms gelangten, darf allerdings nicht unterschätzt werden. Selbst nach dem Ende des römischen Reiches fanden Schmuckobjekte mit Elfenbein aus Ostafrika und Halbedelsteinen aus Indien und Sri Lanka in beachtenswerter Zahl ihren Weg in die Gräber der germanischen Eliten des 5.-7. Jahrhunderts nördlich der Alpen. Im Rahmen der Konferenz präsentierte Katie Hemer von der Universität Sheffield auch sensationelle neue Ergebnisse von Isotopenanalysen an menschlichen Überresten von Gräbern in Wales aus dem 6. Jh., die eine Herkunft eines Teils der Individuen aus dem Mittelmeerraum nahelegen.

Neue Handelswege jenseits des Mittelmeers eröffneten sich im 8./9. Jahrhundert über das osteuropäische Flusssystem vom Kalifat und Byzanz nach Nord- und Westeuropa, wo vor allem die Wikinger als Vermittler auftraten. Vom Umfang dieses Handels künden zehntausende arabische Silbermünzen, die in Horten in Osteuropa und Skandinavien gefunden wurden. Im Gegenzug für Edelmetall und Luxuswaren lieferte die westeuropäische Peripherie vor allem Pelze und Sklaven (deren Handel im Rahmen der Konferenz von Jonathan Conant von der Brown University in den USA und Thomas J. MacMaster aus Edinburgh beleuchtet wurde) in die Zentren des Ostens. Wie Richard Hodges in seinem jüngsten Buch über die Wirtschaft der „Dunklen Jahrhunderte“ darlegt, stand der post-römische Westen in jener Zeit noch deutlich im Schatten der ihn an Größe und Komplexität übertreffenden Imperien der Araber oder Chinesen.

Städte des Mittelalters im Größenvergleich: Wien, (um 1300); Konstantinopel, Byzantinisches Reich (um 500); Kairo, Fatimidenkalifat (um 1000); Bagdad, Abbasidenkalifat (um 800); Chang´an, Hauptstadt der Tang in China (um 800). (© J. Preiser-Kapeller, 2014)

Handel, heilige Knochen und Schweinefleisch

Was die „neue“ Welt auszeichnete, die zwischen dem Untergang des weströmischen Reiches und der Kaiserkrönung Karls des Großen entstand, war neben dem Zerfall der imperialen Einheit die Überlappung der Netzwerke des Handels und der Politik mit jenen der universellen Religionen des Buddhismus, Judentums, Christentums oder Islam, die sich in diesen Jahrhunderten über ganz Eurasien verbreitet hatten.

Als venezianische Händler im Jahr 828 den Hafen von Alexandria in Ägypten anliefen, folgten sie den Routen, die vormals das Land am Nil mit dem Kernland des Imperium Romanum verbunden hatten. Doch trieb sie nicht nur das Streben nach Profit in das nunmehrige Kalifat; heimlich raubten sie (so zumindest die Legende) die Gebeine ihres Stadtpatrons, des Apostels Markus, aus der Stadt und schmuggelten sie unter eine Kiste voller gepökeltem Schweinefleisch auf ihr Schiff – wohlwissend, dass sie damit den muslimischen Zöllner von einer zu genauen Kontrolle abhalten könnten (s. Abb. 6). Symbolisiert wurde durch diese Übertragung auch eine dauerhafter Verbindung der „Markusrepublik“ mit dem „Orient“, die eine Grundlage für ihren weiteren Aufstieg zur wirtschaftlichen Großmacht (und für den Beginn einer neuen ökonomischen Dynamik in Italien und Westeuropa) bilden sollte.

Die Gebeine des Apostels Markus werden von zwei Venezianern aus Alexandria geschmuggelt; Mosaik am südlichen Portal von San Marco (19. Jh.)

Autor:

Dr. Johannes Preiser-Kapeller

Institut für Mittelalterforschung, Abteilung für Byzanzforschung, ÖAW

bzw. Römisch-Germanisches Zentralmuseum, Mainz

Wohllebengasse 12-14/3

1040 Wien

Tel.: 01-51581-3447

Email: Johannes.Preiser-Kapeller@oeaw.ac.at

Website: https://oeaw.academia.edu/JohannesPreiserKapeller

 

Internetlinks

https://www.oeaw.ac.at/byzanz/pdf/Linking_Program.pdf (Programm der Konferenz “Linking the Mediterranean. Regional and Trans-Regional Interactions in Times of Fragmentation (300 -800 CE)”, Wien, 11.-13. Dezember 2014)

 

https://www.academia.edu/3988811/David_Natal_EPISCOPAL_NETWORKS_AND_FRAGMENTATION_IN_LATE_ANTIQUE_WESTERN_EUROPE_ENFLAWE_ (das Projekt “Episcopal Networks and Fragmentation in Late Antique Western Europe/ENFLAWE” von David Natal)

 

https://www.oeaw.ac.at/imafo/ (das Institut für Mittelalterforschung/IMAFO der ÖAW)

 

https://www.oeaw.ac.at/byzanz/ (die Abteilung für Byzanzforschung des IMAFO)

 

Literatur

A. Demandt, Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt. 2. Auflage, München 2014.

J. Drauschke, Zwischen Handel und Geschenk – Studien zur Distribution von Objekten aus dem Orient, aus Byzanz und aus Mitteleuropa im östlichen Merowingerreich (Freiburger Beiträge zur Archäologie und Geschichte des ersten Jahrtausends 14). Rahden/Westf. 2011.

R. Hodges, Dark Age Economics. A new Audit. Bristol 2012.

M. McCormick, Origins of the European Economy. Communications and Commerce AD 300-900 (Cambridge 2001).

J. Preiser-Kapeller, Peaches to Samarkand. Long distance-connectivity, small worlds and socio-cultural dynamics across Afro-Eurasia, 300-800 CE (paper online: https://oeaw.academia.edu/JohannesPreiserKapeller/Papers)

C. Rapp, Holy Bishops in Late Antiquity: The Nature of Christian Leadership in a Time of Transition. Berkeley 2005

B. Ward-Perkins, Der Untergang des Römischen Reiches und das Ende der Zivilisation. Stuttgart 2007.

Ch. Wickham, Framing the Early Middle Ages. Europe and the Mediterranean, 400-800 (Oxford 2005).

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